Anmerkungen zur Lage und Vorschläge für die weitere Arbeit der SPD

Diskussionspapier von Hans-Peter Bartels, Hubertus Heil, Michael Roth, Carsten Schneider und Karsten Schönfeld. U.a. veröffentlicht in der Tageszeitung „Schleswig-Holsteinische Landeszeitung“ vom 1. März 1999

Nach 16 Jahren konservativ-liberaler Hegemonie hat der Regierungswechsel uns Sozialdemokraten die großartige Chance eröffnet, die Politik unseres Landes maßgeblich zu prägen. Trotzdem scheint sich binnen kurzer Zeit in den eigenen Reihen politische Katerstimmung breitzumachen. Manche lamentieren über die vermeintlich unfaire Berichterstattung der Medien, andere klagen über widersprüchliche Erwartungshaltungen der Bevölkerung. Tatsache ist, daß wir, wie vom Bundeskanzler bereitwillig immer wieder eingeräumt, erhebliche Anlaufschwierigkeiten hatten und haben.

Hundert Tage nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist in Hessen eine von vier rot-grünen Landesregierungen abgewählt worden und wird durch eine CDU/FDP-Koalition ersetzt. Daß es so bald zu einem Trendabbruch kommen würde, überrascht.

Durch Hessen mag nun das Klima ein anderes geworden sein, offener. Das Kampagnen-Dramolett „Starke einsame Männer (die aber Freunde sind) führen unser Land in eine bessere Zukunft (in der aber nicht alles anders sein wird)“ ist kein Masterplan für die nächsten zehn Jahre sozialdemokratischer Regierung. Die Wahlkampfzeit, da innerparteiliche Geschlossenheit ein staunenswertes Medienereignis war, ist vorbei. Offene Diskussionen über politische Fragen dürfen jetzt auch gern wieder in der SPD selbst stattfinden, nicht nur zwischen den Koalitionsparteien. Es klingt vielleicht paradox, aber je einförmiger sich die SPD inszeniert, desto wichtiger werden die Positionen der Grünen, Konflikte mit ihnen und auch innergrüne Debatten in der Öffentlichkeit genommen.

Anlaufschwierigkeiten

Die Ursachen für unsere Probleme sind sowohl handwerklicher als auch politischer Art.

Handwerk: Für Verwirrung und Verunsicherung sorgte vor allem der absurde Druck, mit dem neben den versprochenen Korrekturgesetzen des Sofortprogramms die ersten größeren Gesetzesvorhaben zum Einstieg in die ökologische Steuerreform, zum neuen Staatsbürgerschaftsrecht, zum Atomausstieg und zur geringfügigen Beschäftigung durchgesetzt werden sollten.

Ein Projekt, dem zwei Drittel der Bevölkerung skeptisch gegenüberstehen, wie im Fall der Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft, kann zu Stimmenverlusten führen. Daß aber auch ein Projekt, das drei Viertel der Deutschen begrüßen, wie im Fall des Atomausstiegs, mit Stimmungseinbrüchen verbunden ist, zeugt von einem noch nicht professionellen Koalitionsmanagement. Hier sind Kanzleramt, Fraktionsspitzen, A-Länder und Parteiführungen gefragt. Die Koalition braucht neben parlamentarischer Mehrheit, funktionsfähiger Regierung, Koalitionsvertrag, Regierungserklärung und Koalitionsausschuß ein sukzessives Arbeitsprogramm, das auf der Zeitachse mit anderen Ereignissen (Europa, Wahlen von bundespolitischer Bedeutung, Entscheidungsprozesse innerhalb der beteiligten Parteien) koordiniert ist.

Politik: In einer Reihe von zentralen Zukunftsfragen (Wirtschafts- und Finanzpolitik, Zukunft der Arbeit, Sozialstaat, Haushaltssanierung, Familie, Europa) hat die notwendige weitergehende programmatische Klärung in unserer Partei noch nicht stattgefunden. Zu Oppositionszeiten war dies verschmerzlich, in Regierungsverantwortung, da von uns verantwortliches Handeln gefordert ist, geht es nicht ohne Mut zur Klarheit. Dabei darf die SPD weder zur permanenten Selbsterfahrungsgruppe noch zum Kanzlerwahlverein werden. Die allzu oft selbstquälerischen Debatten bei den Grünen sollten uns vor dem einen ebenso warnen wie vor dem anderen der programmatische und personelle Erstarrungstod des „Systems Kohl“.

Politik mit der Mehrheit

Die Gründe für unseren Wahlsieg am 27. September sind ebenso vielfältig wie vielfach analysiert. Klar ist, daß es durch unser Versprechen, Modernität und Solidarität („Innovation und Gerechtigkeit“) miteinander vereinbaren zu können, sowohl gelungen ist, unsere Stammwählerschaft weitgehend zu mobilisieren als auch Menschen für uns zu gewinnen, die gemeinhin nicht dem klassischen sozialdemokratischen Wählerspektrum zugerechnet werden.

Wir wissen, für die schwierigen Aufgaben, die vor uns liegen, brauchen wir nun nicht nur die gewonnene parlamentarische, sondern auch eine gesellschaftliche Mehrheit. Wenn wir unsere zentralen politischen Vorhaben durchsetzen wollen, müssen wir nicht nur Wahlen, sondern auch Köpfe und Herzen der Menschen gewinnen. Mehr als mediale Präsenz erfordert das von uns die Leidenschaft zum Zuhören und Vertrauenschaffen, zum Aufnehmen neuer Ideen, zum Erklären unserer Lösungsvorschläge – und das Werben dafür.

Entwickeln müssen wir die Fähigkeit, als Ergebnis einer umfassenden Diskussion den Ursprungsvorschlag zu revidieren, ohne Beschädigungen am Führungspersonal zu verursachen. Hierin besteht wohl noch eines der Probleme unserer geradezu missionarisch wirkenden, graumelierten Verantwortungsträger, die mit ihren in 16 Jahren vorbereiteten politischen Vorstößen auf eine Umgebung treffen, die sich – im Gegensatz zum Vorschlag – vielleicht verändert hat. Regierungshandeln muß als Ergebnis eines Diskussionsprozesses gesehen werden, nicht als Gegenstand politischer (Selbst-)Zerfleischung.

Das „Gerechtigkeitsversprechen“ einlösen und das „Innovationsversprechen“ nicht vergessen

Mit den in weniger als 100 Tagen realisierten Wahlversprechen (Lohnfortzahlung, Rentenniveau, Reduzierung von Zuzahlungen, Entsendegesetz, Steuersenkung, Kindergeldanhebung) hat die SPD deutlich gemacht, daß sie ihr „Gerechtigkeitsversprechen“ hält. Daneben gilt es freilich zu konkretisieren, was wir im Wahlkampf mit „Innovation“ meinten. Gerade die Verluste der Grünen seit ihrem Magdeburger Parteitag machen deutlich, daß zumindest für junge Wählerinnen und Wähler das Image einer Partei als modern oder unmodern wahlentscheidend sein kann. Weder in der Art der Vermittlung noch in den Inhalten der Regierungspolitik ist aber bisher wirklich klar geworden, daß wir die Partei der „Innovation“ sind. Die mit reichlich Kanzlercharme entschuldigten handwerklichen Fehler der Regierung offenbaren vielmehr, daß die Arbeitsorganisation der neuen Bundesregierung selbst wenig mit dem Management in einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu tun hat.

Fazit

Mit dem Erreichen der stärksten Position ist für die SPD ein Perspektivwechsel verbunden: Die Regierungsrolle soll nicht mehr errungen, sondern auf Dauer gehalten werden. Unbeirrbarkeit und Optimismus der oppositionellen, aufsteigenden sozialdemokratischen Formation vor der Bundestagswahl dürfen sich nun nicht in Starrsinn und Arroganz der regierenden Etablierten verwandeln. Während Wahlniederlagen beinahe automatisch zur Überprüfung des programmatischen und personellen Angebots einer Partei führen und damit den politischen Modernisierungsprozeß in Gang halten, muß die erfolgreiche, ihre führende Position verteidigende Partei ihre Erneuerung ohne äußeren Zwang, aber unter sich wandelnden äußeren Bedingungen selbst veranlassen. Daraus folgt, um aus dem Höhepunkt des Erfolges keinen Wendepunkt werden zu lassen, daß die regierende SPD das Risiko des politischen Konflikts mit politischen oder gesellschaftlichen Gegnern nicht scheuen darf. Sozialdemokraten müssen wissen, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Die Verteidigung von buchhalterischen Leistungsbilanzen würde am Ende in Bund und Ländern nur gegen schwache Konkurrenz genügen.