Diskussionspapier von Hans-Peter Bartels und Christian Lange vom 4. März 1999

„Read my lips: no – new – taxes!“ So plusterte er sich auf, der Steuerpopulismus von gestern. George Bush versprach den Amerikanern „keine neue Steuern“, brach sein Versprechen und wurde nach vier Jahren abgewählt. Auch in Deutschland ist der Vorwurf der „Steuerlüge“ eine bewährte Wahlkampfkeule, zu recht. Die Steuerpolitik sollte berechenbar und auf der Höhe ihrer Zeit sein. Sozialdemokraten gilt nun seit alters her die Erhöhung der Mehrwertsteuer als unsoziales Kleine-Leute-Schröpfen. Nicht der Konsum, sondern die reichtumschaffenden Gewalten der Industrie sollten in der sozialdemokratisch formierten Gesellschaft Grundlage des Steuerstaates sein: Kapital und Arbeit.

Das traditionssatte Festhalten an diesem Paradigma wird heute immer prekärer. Denn der Wohlstand des Landes spiegelt sich nicht mehr im Wachstum der Beschäftigung, im Gegenteil, je reicher die Gesellschaft, desto rationeller und knapper die Arbeit. Und das immer schon scheue Kapital ist im globalisierten Wettbewerb unserer Jahrhundertwende flüchtig wie nie. Die Arbeit aber ist unter der drückenden Steuer- und Abgabenlast zu teuer für den alten Vollbeschäftigungsstandard geworden. Maßstab des wachsenden deutschen Wohlstandes ist längst nicht mehr der jährliche Zuwachs des Einkommens aus abhängiger Beschäftigung, sondern der ständig wachsende Wert der über den Markt ausgetauschten Güter und Dienstleistungen.

Nach den jetzt erfolgten Verbesserungen in der Balance der direkten Kapital- und Arbeit-Besteuerung sollte sich die regierende SPD nun rechtzeitig ehrlich machen und das Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern neu justieren, das heißt: die Konsumsteuern erhöhen, die Einkommens- und Körperschaftssteuern weiter senken.

Ein wesentlicher Vorteil indirekter Steuern sind gesamtwirtschaftlich geringere Verzerrungen. Vorbehalte, die besonders von sozialdemokratischer Seite immer wieder hinsichtlich sozialpolitischer Ungerechtigkeiten einer Mehrwertsteuererhöhung vorgebracht werden, sind bei näherem Hinsehen häufig nicht stichhaltig. Dies gilt im Besonderen dann, wenn eine gleichzeitige Verlagerung der Steuerlast auf die indirekte Besteuerung mit einer deutlichen Senkung der direkten Steuern einhergeht. Dabei dürfen sich die Gesamtausgaben des Staates nicht erhöhen. Mittelfristig ist eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast insgesamt bzw. die Senkung der Staatsquote anzustreben, damit über eine Nettoentlastung des privaten Sektors die Binnennachfrage gestärkt wird.

Zunächst zum Hauptargument, das im Allgemeinen gegen höhere Mehrwertsteuersätze vorgebracht wird – der überproportional stärkeren Belastung von unteren Einkommens-schichten, also der tendenziell regressiven Wirkung der Mehrwertsteuer: Dieses Argument stützt sich auf die Beobachtung, daß die Sparquote mit steigendem Einkommen zunimmt. Je mehr Einkommen also einem Haushalt zur Verfügung steht, desto mehr wird davon gespart. Reichere Bevölkerungsschichten verwenden demnach anteilsmäßig weniger Einkommen auf den Konsum und zahlen somit auch proportional weniger Umsatzsteuer. Ärmere Bevölkerungsschichten müssen dagegen einen größeren Teil Ihres Einkommens für Konsumausgaben aufwenden und unterliegen somit auch in höherem Maße der Umsatzsteuer. Dieses Argument ist grundsätzlich richtig. Allerdings kann eine Erhöhung der Mehrwertsteuer durch gezielte Entlastungen bei den direkten Steuern und Anpassung der sozialstaatlichen Transferleistungen (Rente, BAföG, Sozialhilfe) absolut sozialverträglich gestaltet werden.

Es ist zu bedenken, daß im derzeit gültigen Steuerrecht auch andere Steuern faktisch regressiv wirken. Sonderabschreibungsmöglichkeiten und Steuersparmodelle bevorzugen häufig gerade reichere Steuerzahler. Das führte bisher dazu, daß die Hauptlast der direkten Besteuerung bereits heute von den kleinen und mittleren Einkommen getragen wird – was sich auch durch das Steuerentlastungsgesetz im wesentlichen nicht ändern dürfte. Ein Umschichten des Steueraufkommens auf indirekte Steuern verbunden mit einer gleichzeitigen Reduktion der Steuersätze auf Einkommen und betriebliche Erträge und der Streichung von steuerlichen Sonderregelungen könnte per Saldo zu einem gerechteren Steuersystem führen.

Soziale Härten, die sich aus der Regressivität der Mehrwertsteuer und dem Ansteigen der Lebenshaltungskosten ergeben, könnten durch andere steuerliche Maßnahmen ausgeglichen werden. Bei einem wie bisher auf zwei Säulen basierenden Steuersystem ließe sich ein Ausgleich durch eine weitere Erhöhung der Freibeträge, insbesondere des Grundfreibetrags, bei den direkten Steuern schaffen. Daneben könnten schwächere Bevölkerungsgruppen, die einen relativ großen Teil ihres Einkommens für lebensnotwendige Güter verwenden, durch ermäßigte Mehrwertsteuersätze z.B. auf Grundnahrungsmittel entlastet werden. Außerdem könnte man über einen Ausbau des Systems der heute auf Tabak, Alkohol, Kaffee und Kraftstoff erhobenen Verbrauchssteuern sowie über bestimmte Luxussteuern nachdenken.

Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß das Leistungsfähigkeitsprinzip, eines der beiden Fundamentalprinzipien des deutschen Steuersystems, durch die Kompliziertheit des deutschen Steuerrechts, relativiert wird. Angesichts zahlreicher Sonderregelungen werden gleiche ökonomische Verhältnisse steuerlich oftmals unterschiedlich behandelt. Die Besteuerung orientiert sich damit nicht mehr an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen. Der Grundsatz der proportionalen Besteuerung wird damit ebenfalls in vielen Fällen verletzt. Eine höhere Konsumbesteuerung würde das Leistungsfähigkeitsprinzip besser umsetzen als ein durch viele Ausnahmetatbestände und Schlupflöcher verkompliziertes Einkommenssteuerrecht, weil hier der tatsächliche Konsum und nicht das steuerlich auf unterschiedliche Weise definierte Einkommen als Bemessungsgrundlage dient.

Ein weiteres Argument gegen ein stärkeres Gewicht der indirekten Besteuerung ist, daß der Endverbraucher einziges Steuersubjekt ist, da die Unternehmen eine Umsatzsteuer auf allen Ebenen der Wertschöpfung immer über einen höheren Preis an den Abnehmer weitergeben. Eine Mehrwertsteuererhöhung wird also bis auf wenige Ausnahmen, wo für den Konsumenten Substitutionsmöglichkeiten bestehen, immer vollständig auf den Endverbraucher überwälzt. Auch wenn Erfahrungen der letzten Mehrwertsteuererhöhung zeigen, daß bei einer Anhebung der Umsatzsteuersätze nicht in jedem Fall die Preise sofort in gleichem Maße mitsteigen, die Unternehmen also über ihren Gewinn oder über Rationalisierungsmaßnahmen einen Teil der steigenden Bruttokosten kompensieren müssen, ist die theoretische Vorstellung von der totalen Überwälzung indirekter Steuern dennoch plausibel.

Der grundsätzliche Einwand der einseitigen Belastung der Konsumenten findet seine Einschränkung nicht in empirisch beobachtbaren Substitutionsmöglichkeiten oder einer eventuellen Marktmacht der Endverbraucher im Sinne dessen, was Volkswirte als einen „Käufermarkt“ bezeichnen (also der Fähigkeit des Konsumenten, bei einem Bruttopreisanstieg seine Nachfrage soweit zurückzunehmen, daß die Anbieter nicht mehr ihre bisherigen Preise fordern können). Im Hinblick auf eine Verschiebung der gesamten Steuerlast von der direkten zur indirekten Besteuerung ist vielmehr das Argument von Bedeutung, daß ohnehin alle steuerlich bedingten Kosten auf Unternehmensebene über den Preis abgedeckt werden müssen – unabhängig davon, ob sie durch direkte oder indirekte Steuern hervorgerufen werden. Bei hinreichend großer Aggregation der Betrachtung zeigt sich, daß alle Steuern letztlich immer von den Konsumenten getragen werden, so daß die Umsatzsteuer hier keine Ausnahme machen würde, und somit nicht mit Verweis auf die angeblich überproportionale Belastung der Verbraucher abgelehnt werden kann.

Durch die Besteuerung von Konsum und Einkommen sollen im deutschen Steuersystem bestimmte wirtschaftspolitische Ziele erreicht werden. Sonderregelungen und Ausnahmetatbestände bei direkten Steuern verfolgen verschiedene wirtschafts- und sozialpolitische Lenkungsfunktionen. Diese können allerdings auch mit indirekten Steuern realisiert werden, indem das System der ermäßigten Mehrwertsteuersätze, zum Beispiel auf lebensnotwendige Güter oder der erhöhten Mehrwertsteuersätze, beispielsweise durch Luxussteuern, ausgebaut wird.

Außerdem scheint die Erhöhung der indirekten Besteuerung und die Entlastung bei den direkten Steuern aus Wettbewerbsgründen nahezu unausweichlich. Im europäischen Vergleich leistet sich die Bundesrepublik immer noch einen der niedrigsten Mehrwertsteuersätze. Da die Unternehmen mehr Einkommens- und Körperschaftssteuern zahlen müssen als ihre ausländische Konkurrenz bei europaweit annähernd gleichen Staatsquoten, führt dies zu einer Wettbewerbsverzerrung für deutsche Unternehmen auf dem Weltmarkt. Eine Mehrwertsteuererhöhung bei gleichzeitiger Senkung der direkten Steuersätze hätte demnach insgesamt betrachtet einen positiven gesamtwirtschaftlichen Effekt. Weniger steuerlich bedingte Wettbewerbsverzerrungen würden zu einer Sicherung des Standorts Deutschland beitragen und damit Wachstum und Beschäftigung in der Bundesrepublik unterstützen.

Sozialdemokratische Politik sollte sich rechtzeitig Forderungen nach einer Umstrukturierung des Steuersystems weg von den direkten, hin zu den indirekten Steuern zu eigen machen.

Eines muß jedoch vermieden werden: Eine europäische Harmonisierung des deutschen Mehrwertsteuersatzes nach oben bei gleichbleibenden direkten Steuern. Das wäre dann beides – unsozial und Gift für die Wirtschaft.