Hören und gehört werden
„Das Wort ist frei.“ Was für ein Satz! So beginnt wie seit Jahrhunderten die Aussprache zu jedem Tagesordnungspunkt der diesjährigen 626. Landsgemeinde im Kanton Glarus. Ich beobachte als Abgeordneter des Deutschen Bundestages die Verhandlungen einiger Tausend Glarner Bürgerinnen und Bürger über ihre eigenen Angelegenheiten. Sie beschließen souverän und im Freien stehend Gesetze, legen die Steuern fest und wählen ihre Staatsfunktionäre.
Was man im hölzernen „Ring“ von Glarus vier Stunden lang geboten bekommt, sieht aus wie das eidgenössische Demokratie-Idyll in seiner allerreinsten Form. Männer und Frauen, Jungvolk und Greise heben die Hand hoch in den Himmel zum feierlichen Schwur aufs Vaterland. Der Landammann erbittet den „Machtschutz“ Gottes. Um den Ring ist Militär aufgezogen. Polizei kontrolliert an den Eingängen die Stimmberechtigung. Unter klingendem Spiel sind im Sonntagsstaat die Honoratioren einmarschiert. Die Sonne scheint. Und links, rechts, im Hintergrund die steilen Berge, in deren Angesicht schon die seltsamsten „Geschäfte“ verhandelt worden sein mögen, rahmen das altehrwürdige Ritual im Tal so prächtig ein, dass man weinen möchte.
Die Stichworte des Landammanns zur Begrüßung sind an schlichter Schönheit kaum zu überbieten: Das Volk von Glarus sei „privilegiert“, weil es „in Freiheit und Verantwortung“ hier in der Landsgemeinde „raten, mindern und mehren“ könne, während anderswo sich „spürbare Verdrossenheit“ breitmache. Kein Handy dudelt, Klatschen ist verboten, kein Krakehl stört. „Sich eine Meinung bilden und diese auch kundtun“, im Ring „sehen und gesehen werden, hören und gehört werden“, nicht „die Faust in der Tasche ballen“, das „gemeinsame Politisieren“ – das ist die direkteste Demokratie, die heute zu haben ist. Oder nicht?
Der deutschen Seele, die bekanntlich gerne im 150-prozentigen schwelgt, drängen sich Einwände auf. Wenn wenige Tausend Anwesende für vielleicht dreißigtausend Glarner Stimmberechtigte Entscheidungen treffen, bestimmt doch wohl eine Minderheit und nicht „das Volk“ in seiner Weis- und Gesamtheit den Kurs. Und das, obwohl an diesem Feiertag der Volkssouveränität die öffentlichen Verkehrsmittel im Kanton gratis benutzt werden dürfen! Die meisten der „hochverehrten Mitlandleute“ hatten offenbar besseres zu tun. Außerdem setzen sich die Anträge der Kantons-Regierung („Regierungsrat“), deren Annahme meist auch vom beratenden Parlament („Landrat“) empfohlen wird, ausnahmslos durch. Langweilig! In der Aussprache sieht und hört man keine Frauen, sondern fast nur Herren, die das freie Wort ergreifen. Das politikerhafte Sich-Spreitzen am freistehenden Mikrofon auf dem Podest im Ring ist gewiss nicht jederfraus Sache. Doch die Beschlüsse gelten, das einmal festgestellte „Mehr“ ist unanfechtbar. Es wird auch akzeptiert.
Aber ist der Marktplatzentscheid nach klassisch attischem Vorbild „besser“ als das von Großbritannien, Amerika und Frankreich aus verbreitete repräsentative Modell? Oder als die Volksabstimmung, die im Schweizer Flächenstaat gleich und geheim an der Urne stattfindet? Pflegt hier nicht eine Tourismusregion, die ein bisschen abseits liegt, ein archaisches, übriggebliebenes, pittoreskes Ritual? So etwas gibt es nur noch in Appenzell Innerrhoden, sonst nirgendwo. Aber es ist weltberühmt. Also Folklore mit Hintergedanken? Moderner ausgedrückt: Der Eid im Ring als cool kalkuliertes Alleinstellungsmerkmal?
Klar ist: Diese Form legitimer Selbstherrschaft des Volkes stellt heute nichts in Frage, was seit dem 14. Jahrhundert und außerhalb des Tals sich an demokratischen Verfahren entwickelt, durchgesetzt und bewährt hat. In Ländern und Nationen, deren „Mitlandleute“ (was für ein herrliches Wort: nicht „Volk“, nicht „Bürger“!) nach Millionen zählen, müssen andere Regeln gelten. Und je länger die Legitimationsketten werden, von der Direktwahl des Bürgermeisters über Parlamentswahlen und parlamentsgewählte Regierungen bis hin zu den Ministerräten der Europäischen Union und den G20-Gipfeln, desto weniger anschaulich ist der Anteil des einzelnen Bürgers an der Verantwortung für das Gelingen des Ganzen. Das führt immer und überall, in Deutschland wie in den USA oder Holland, zu Nichtwahl, Protestwahl, Parteienverachtung, kurz: Politikverdrossenheit als Distanzierungschance.
Diese Chance hat der Glarner Stimmberechtigte nicht. Er kann wegbleiben. Aber er muss akzeptieren, dass dann eben diejenigen für ihn mit entscheiden, die hingehen. Die Landsgemeinde ist eine Aktivbürgerdemokratie – aber nicht im Sinne pausenloser digitaler Überforderung im liquid-democracy-Universum nachtaktiver „Piraten“, sondern extrem ordentlich vorbereitet (mit einem 140-seitigen „Memorial“, versandt an jeden Haushalt), mit verbindlicher Tagesordnung, Geschäftsordnung und Versammlungsleitung – wie für eine gute Parlamentssitzung. Und entschieden wird an der frischen Luft. In den Straßen ringsum gibt es Bier und Wein und Volksfeststimmung.
Der Extremfall Glarus kann für die Verdrossenheitsdiskurse und die Demokratiereformbestrebungen der übrigen Welt als „regulative Idee“ (wie der Philosoph Jürgen Habermas sagen würde) dienen. Die Landsgemeinde beschließt keine besseren Gesetze als ein Parlament. Auch sie entscheidet mit Mehrheit, wie sonst? Auch sie kennt nicht die objektive Wahrheit oder die Einhelligkeit von Volkes Willen in der Politik, sondern nur „Geschäfte“, die nach den hergebrachten Regeln verabschiedet werden und dann für alle gelten – bis sie bei nächster Gelegenheit vielleicht wieder eine Abänderung erfahren.
Glarus ist ein Idyll, kein Paradies. Kürzlich müssen an der Landsgemeinde die örtlichen Jusos etwas beantragt haben, das auch in der Welt deutscher rot-grün dominierter Landtage gerade in Mode ist: das Stimmrecht mit 16. Man mag das fortschrittlich finden oder opportunistisch. Ein Parlament kann darüber entscheiden oder eine Volksversammlung. Wenn es beschlossen ist, gilt es. Und bleibt umstritten. 2007 setzten sich die Jusos überraschend durch. Seitdem dürfen im Glarner Ring auch 16-jährige raten, mindern und mehren. An diesem 5. Mai ergriff kein Minderjähriger das Wort. Überraschungen gab es keine. Aber es war ein wunderschöner Frühlingstag.
Dr. Hans-Peter Bartels ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecher der Arbeitsgruppe Demokratie in der SPD-Fraktion.