Rede von Hans-Peter Bartels vor dem Deutschen Bundestag am 23. September 2004

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Transformation der Bundeswehr wird – das ist heute schon mehrfach gesagt worden – vieles in unseren Streitkräften sehr grundsätzlich ändern. Wir machen 15 Jahre nach der Implosion der Bedrohung aus dem Osten Ernst damit, die Bundeswehr in einem permanenten Prozess auf ihre neuen Aufgaben auszurichten. Denn die neuen Bedrohungen und Aufgaben wechseln heute häufiger als die Generalsekretäre der KPdSU in der Zeit des Kalten Krieges

Während bis zum Ende der Blockkonfrontation das am wenigsten wahrscheinliche Szenario ein tatsächlicher Einsatz der Bundeswehr war, sind Einsätze weit außerhalb unserer Grenzen heutzutage ständige Realität, ja beinahe Normalität. Die Antwort auf diese neue Wirklichkeit ist die Transformation der Bundeswehr. Alle bisher gültigen Strukturen und Konzepte kommen auf den Prüfstand. Sie müssen sich daran messen lassen, welchen Beitrag sie zur Aufgabenerfüllung der Bundeswehr leisten. Darüber ist heute Morgen schon gesprochen worden.

Lassen Sie mich auf einen Aspekt der aktuellen Diskussion eingehen, der besonders große öffentliche Aufmerksamkeit verdient: die Zukunft der Wehrpflicht in diesem veränderten Umfeld. Einige Stimmen in diesem Hause sind immer sehr schnell mit ihrer Forderung nach dem Ende der Wehrpflicht zur Stelle. Sie passe nicht mehr in unsere Zeit, hören wir dann. Die Argumente wechseln: Einmal wird die angeblich mangelnde Wehrgerechtigkeit beklagt, dann heißt es wieder, die Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar. Manchmal wird auch empirisch argumentiert: Die große Mehrheit der NATO-Mitgliedstaaten – so die FDP in einem ihrer Anträge – habe die Wehrpflicht ausgesetzt oder plane, dies zu tun. Deshalb müssten wir nun ebenso handeln.

Mich überzeugt keine dieser Begründungen. Im Gegenteil: An der Wehrpflicht festzuhalten, wie der Verteidigungsminister das will, ist richtig. Ich glaube, dass die Entscheidung für die Wehrpflicht, solange wir eigene, deutsche Streitkräfte unterhalten, solange es noch keine Europaarmee gibt, richtig bleibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Streitkräfte ohne Wehrpflichtige wären eine Armee, die nach und nach nicht mehr zur Alltagserfahrung der Menschen in Deutschland gehören würde. Das wäre eine Bundeswehr, die viele dann nur noch aus der „Tagesschau“ kennen. Man soll die Zahlen nicht gering schätzen: 8 Millionen junge Männer haben in den vergangenen fünf Jahrzehnten in der Bundeswehr gedient. Im Jahr 2003 haben 120 000 Rekruten – W9er, FWDLer, Zeit- und Berufssoldaten – ihren Dienst in der Bundeswehr angetreten und etwa genauso viele, 120 000, sind ausgeschieden. Diese Fluktuation, dieser ständige Austausch ist eines der wichtigsten Bindemittel zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Das wollen wir erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Die Wehrpflicht ist aber auch deshalb so wertvoll, weil wir nicht wollen, dass die Bundeswehr zu einem beliebigen Dienstleister in Sachen Sicherheit wird. Gerade in Zeiten, in denen unsere Soldaten in Einsätzen weit außerhalb unserer Grenzen ihren Dienst tun, ist es wichtig, dass das Militärische dem Zivilen nicht fremd wird. Zusammen mit dem Prinzip der Parlamentsarmee gehört die Wehrpflicht zu den Sicherungsmechanismen, die uns davor bewahren, das Militär leichtfertig einzusetzen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Aber gerne.

Ina Lenke (FDP):
Herr Kollege, Sie verteidigen so vehement die Wehrpflicht. Ich möchte gern Ihre Definition von Einberufungsgerechtigkeit hören. Wir haben ja keine Wehrgerechtigkeit mehr. Wir haben eine eklatante Wehrungerechtigkeit, weil fast jeder Zweite nicht mehr zum Wehrdienst oder Zivildienst einberufen wird. Das heißt, die einen jungen Leute dienen und haben in unserer Republik Nachteile, andere, die sich davon freimachen können und wegen Ihrer niedrigschwelligen Einberufungskriterien nicht gezogen werden, haben zum Beispiel die Möglichkeit, ein Jahr eher in den Beruf zu gehen.

Sie haben von Einberufungsgerechtigkeit gesprochen. Meinen Sie, dass jetzt, im Jahr 2004, Einberufungsgerechtigkeit gegeben ist? Diese Frage möchte ich gerne von Ihnen beantwortet haben.

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Frau Kollegin, um auf den Mythos Wehrungerechtigkeit einzugehen: 100 Prozent haben wir nie gehabt, auch in Zeiten des Kalten Krieges nicht. Ich habe es gesagt: Wir haben im Jahr 2003 120 000 Wehrpflichtige zur Bundeswehr eingezogen; das sind die Zahlen, die uns vorliegen. Darüber hinaus leisten 20 000 bis 30 000 in den Bereichen Bundesgrenzschutz, Polizei und Katastrophenschutz ihren Dienst für die Sicherheit unseres Landes und werden deshalb nicht zur Bundeswehr einberufen. Darüber hinaus haben wir die Kriegsdienstverweigerer, die Zivildienst leisten. Weit über die Hälfte der Angehörigen eines Jahrgangs leistet ihren Dienst – nicht nur Wehrdienst – für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus. Ich finde das gut. Es enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, uns vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung, aber auch geringerer Personalstärke der Bundeswehr Gedanken über die Ausgestaltung der Wehrpflicht zu machen und sie anzupassen. Aber wir haben heute nicht das Problem einer eklatanten Wehrungerechtigkeit. Wenn Sie die Zahlen zur Kenntnis nehmen, die das Verteidigungsministerium veröffentlicht, werden Sie sehen: Weit über die Hälfte tut ihren Dienst.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich will zu einem anderen Argument, das von Gegnern der Wehrpflicht verwendet wird, Stellung nehmen. Das ist die sicherheitspolitische Legitimation, die zu Zeiten des Kalten Krieges da war und heute angeblich fehlt. Seit die Militärblöcke entfallen sind, so heißt es, gebe es keine Legitimation mehr für die Wehrpflicht. Da frage ich mich: Für die Bundeswehr auch nicht mehr?

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das ist doch dummes Zeug! Quatsch!)

– Ich sehe das ganz anders. Herr Nolting, ich gebe Ihnen zu diesem „Quatsch“ jetzt einmal eine Erklärung. Ich hoffe, Sie können sie nachvollziehen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wer hat das aufgeschrieben?)

Nach Art. 87 a unseres Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte auf. Sie dienen der Verteidigung und jenen Zwecken, die das Grundgesetz ausdrücklich zulässt. Diese Zwecke sind in Art. 24 unter anderem beschrieben. Ich zitiere:

Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; Gemeinsame Sicherheit, das ist nicht Landesverteidigung allein. Ein solches Bündnis muss dazu dienen, eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbei[zu]führen und [zu] sichern.

Wir sind Mitglied solcher Bündnisse. Sie heißen UNO, NATO und EU. Auf Beschluss dieses Parlaments stellen wir ihnen zur Wahrung des Friedens deutsche Streitkräfte zur Verfügung. Das ist zwar etwas anderes als Landesverteidigung, es ist aber einer der verfassungsmäßigen Daseinszwecke der Bundeswehr.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das stellt doch keiner infrage!)

Das wird oft vergessen oder unterschlagen. Deshalb sprechen wir heute im Übrigen von der Transformation der Bundeswehr. Wenn es nur um Landesverteidigung ginge, gäbe es nicht viel zu transformieren.

Die Bundeswehr ist laut Grundgesetz ein Instrument zur Erfüllung unserer Verpflichtung, dazu beizutragen, den Frieden in der Welt zu sichern oder wiederherzustellen. So ist es selbst in unserem Grundgesetz vorgesehen. Um diese Bundeswehr optimal aufzustellen, haben wir nach Art. 12 a des Grundgesetzes in Deutschland das Instrument der allgemeinen Wehrpflicht. Wir müssen nicht krampfhaft nach originellen Legitimationen für die Wehrpflicht suchen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie sind gerade dabei!)

Hier ist sie. Sie steht im Grundgesetz. Dies ist die wichtigste sicherheitspolitische Legitimation der Wehrpflicht heute: Unser Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit, der wir uns verpflichtet haben und die wir mitgestalten.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dafür müssen wir übrigens nicht extra 25 neue Heimatschutzbrigaden aufstellen, damit der kritische Bürger sagt: Oh, Heimatschutz, das hört sich nach Landesverteidigung an, also bleibt es bei der Wehrpflicht. Für mich als Norddeutschen hört sich das eher ein bisschen nach bayerischem Tüdelkram an. Unsere Verfassungsprinzipien, unsere Idee von einer friedlichen Welt, unser Recht, ohne Terror zu leben, wird nicht nur in Hindelang verteidigt, sondern – wo Struck Recht hat, hat er Recht – auch am Hindukusch. So ist die sicherheitspolitische Lage heute.

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die Lage in jenen NATO-Staaten, deren Abschaffung der Wehrpflicht uns ein Vorbild sein soll. Weder gewinnen die Streitkräfte in diesen Ländern den besseren Nachwuchs – eher das Gegenteil ist der Fall – noch sind die dortigen Berufsarmeen kostengünstiger.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Ja.

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):
Lieber Herr Kollege Bartels, Sie haben gerade von der Aufstellung von Heimatschutzbrigaden gesprochen. Teilen Sie meine Auffassung, dass die vorhandenen Heimatschutzbataillone – möglicherweise umgestaltet für neue Aufgaben – diese Aufgabe auch wahrnehmen könnten?

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Sie meinen die Reservebataillone?

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):
Ich meine die gekaderten Heimatschutzbataillone, die nicht aktiven Truppenteile, plus 200 andere nicht aktive Truppenteile der Bundeswehr.

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Darüber wird man reden können, wenn es um die Reservistenkonzeption der Bundeswehr geht. Ich bin jedenfalls dagegen, neue Einheiten aufzustellen, um damit die Wehrpflicht zu rechtfertigen, die wir selbstverständlich auch ganz anders rechtfertigen können, nämlich mit den heutigen Aufgaben der Bundeswehr. Dafür brauchen wir keine neuen aktiven Truppenteile.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Es gibt bessere Aufgaben für die Reservisten!)

Das Argument, andere NATO-Staaten schaffen auch die Wehrpflicht ab und sind damit ein Vorbild, kann für uns, wenn wir genau hinschauen, nicht gelten. Das ist nicht kostengünstiger und nicht besser. Die Wahrheit ist, dass selbst im Umfang reduzierteBerufsarmeen höhere Kosten verursachen, etwa durch erheblich höhere Investitionen in Nachwuchsgewinnung und Personalbindung.

Schwierigkeiten gibt es auch bei der Gewinnung von Mannschaften und Unteroffizieren. Weil die Haushaltsmöglichkeiten, junge Menschen über finanzielle Anreize zum Dienst in der Armee zu bewegen, auch bei unseren Nachbarn nicht unbegrenzt sind, kommt oft die zweite Option zum Zuge, um die Reihen zu füllen: die Senkung der Einstellungskriterien. Das ist nicht gerade der Königsweg zur Professionalisierung der Streitkräfte.

Im Übrigen sind die FWDLer, die freiwillig länger dienenden Wehrpflichtigen, ganz professionell an Auslandseinsätzen der Bundeswehr beteiligt. Sie haben ihren Anteil am guten Ruf unserer Soldaten in den Einsatzgebieten.

Die Kontinuität liegt im Wandel. Die Wehrpflicht ist kein Dinosaurier aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts. Sie bleibt notwendig und wird im Sinne des Transformationsgedankens ständig den neuen Erfordernissen angepasst. Wir unterstützen den Bundesminister der Verteidigung auf diesem Weg.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [FDP]: Keine Drohungen!)

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