Gastkommentar von Hans-Peter Bartels, MdB in der Wochenzeitung „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ vom 17. September 1999
Prächtiger war die Position der SPD-Deutschland nie. Der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, der Bundestagspräsident: allesamt Sozialdemokraten. Dazu kamen elf sozialdemokratische Ministerpräsidenten. Anfang 1999 schien beinah alles erreicht. Die Generation der 51-jährigen Spitzengenossen war nach langen Märschen überall am Ziel angekommen. Aber der Weg geht weiter. Hessen, Saarland, Thüringen: Drei SPD-Allein- oder Mitregierungsländer sind schon wieder weg.
Der helle Schein des absoluten SPD-Staates mochte blenden. Seine Basis bleibt der graue Kompromiss der vielgestaltigen Koalitionsdemokratie. Viele sozialdemokratische Regierende sind oder waren auf konkurrierende Parteien angewiesen, auf die Grünen (Bundestag, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Hessen), die FDP (Rheinland-Pfalz), die CDU (Bremen, Berlin, Thüringen, Brandenburg) und die PDS (Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern). Daran ändern für die Bundespolitik die Total- oder Teilmachtverluste in den Landtagswahlen dieses Jahres wenig. Auch die Wahlen in Sachsen und Berlin werden die bundesrepublikanischen Machtgewichte nicht wirklich verändern. Sie drücken lediglich Stimmungen zur Bundespolitik aus. Weil aber die SPD 1998/99 einen kaum mehr überbietbaren Höhepunkt repräsentativ-demokratischen Erfolges erreicht hatte, sieht jetzt alles nach Abstieg aus. Auf längere Sicht aber wird es wohl ein Auf und Ab geben, bis die nächste Bundestagswahl 2002 einen neuen Maßstab setzt.
In der politischen, insbesondere der innerparteilichen Diskussion ist jedes Wahlergebnis selbstverständlich instrumentalisierbar für oder gegen die Korrektheit widerstreitender Konzepte. Die jetzt erkennbar werdende Verbindung von „sozialer Gerechtigkeit“ (Steuersenkungen, mehr Kindergeld, sinkende Sozialversicherungsbeiträge) und „lnnovation“ (Renten-, Gesundheits- und Unternehmenssteuerreform) bei gleichzeitiger strenger Haushaltskonsolidierung ist vor allem in der SPD selbst unpopulär. Wahlniederlagen scheinen da den Gegnern der Schröder-Linie Recht zu geben: Wäre es nicht schöner und Erfolg versprechender, nur Wohltaten übers Volk auszuschütten?
Im Wahlkampf 1998 wurden vor allem die netten Seiten prospektiver sozialdemokratischer Regierungspolitik vorgestellt. Das war falsch. Keine Spur war da von Härte-Rhetorik, Zumutungen, Schweiß und Tränen. Der Hinweis auf „Kassensturz“ und „Finanzierungsvorbehalt“ blieb kryptisch, als ob nicht die ungeheure Schuldenlast des Bundes (1,5 Billionen Mark) schon allgemein bekannt gewesen sei.
Jetzt muss die Partei nacharbeiten, zunächst sich selbst und dann wieder die Wähler von der Richtigkeit des bislang unerklärten Kurses der neuen Mitte überzeugen. Die Form für diese nachholende Selbstvergewisserung kann die inzwischen offiziell eröffnete Grundsatzprogrammdebatte sein. Das zu ersetzende, weithin unbekannte Berliner Programm von 1989 sagt viel über die damals bewegenden Top-Themen Frieden, Frauen, Dritte Welt und Ökologie. Es sagt wenig über Globalisierung und Individualisierung, über UNO und NATO. Und es sagt gar nichts über das zu einende Deutschland und den Abbau der Staatsverschuldung.
Schröder, Scharping, Eichel und Müntefering werden es schwer genug haben, vom Zentrum des Parteiensystems aus links und rechts die notwendige Zustimmung zum Zukunftsprogramm und zum Sparpaket zu gewinnen. Dabei sollten sie sich wenigstens der SPD sicher sein können.
Die Chance auf den großen „Ruck“, den Bundespräsident Herzog vor zwei Jahren gefordert hat, ist immer noch da. Damit Bewegung entsteht, müssen nun die Parteien genauso wie die Bürger mitrucken. Scheitern kann das Reformprogramm nur an einer Blockade durch die mitregierende Opposition oder durch die oppositionellen Teile der regierenden SPD, nicht an den Wahlschlappen der letzten beiden Sonntage.