Treuloser Verrat, das war immer der schlimmstmögliche Vorwurf an die SPD: Treulosigkeit gegenüber der eigenen Nation („vaterlandslose Gesellen“), gegenüber der eigenen Klasse („Wer hat uns verraten?“), gegenüber dem eigenen Parteiprogramm („Populismus“). Dieser in Verantwortungszeiten stets drohende Vorwurf zeigt, dass den Mitgliedern, den Wählern, den Landsleuten, Deutschlands älteste und zugleich größte Partei niemals gleichgültig scheint. Das ist gut so. Und deshalb gehört das Streben nach Identität von Sagen und Tun zum Wesen der Sozialdemokratie.
In der Richtungsdebatte dieser Wochen schimmert der Verratsvorwurf wieder durch: Die SPD habe im Wahlkampf links geblinkt und sei in der Regierung rechts abgebogen. Aber auch viele Sozialdemokraten, denen die alten Rechts-Links-Schablonen nichts mehr bedeuten, fühlen sich ein bisschen unwohl mit der Politik der unerklärten „Neuen Mitte“, die doch – irgendwie – einen Kurswechsel darstellt und darstellen soll.
Die neue Politik, deren grundlegende Dokumente das sogenannte „Schröder/Blair-Papier“ und das Regierungsprogramm „Deutschlands erneuern“ sind, öffnet einen breiten Spalt zwischen dem Berliner Programm vom Dezember 1989 und der sozialdemokratischen Praxis 1999. Das Berliner Grundsatzpapier war ausgerechnet in dem Moment beschlossen worden, als sich die ganze Welt änderte. Es markiert die political correctness der späten westdeutschen Bundesrepublik und den Sieg, die durchgesetzte Hegemonie der 68er-„Enkel“-Generation in der SPD: ein bisschen anti-autoritär, anti-institutionell, sehr ökologisch (wogegen nichts einzuwenden ist), finanzpolitisch blauäugig („auch künftig keine geringere Gesamtbelastung durch Steuern“).
Inzwischen stellt sich manche Frage neu, treten manche Konflikte schärfer zutage, anderes hat sich erledigt. Noch mehr individuelle Selbstverwirklichungs-Freiheit gegenüber Mitmenschen und Staat erkämpfen zu wollen wäre ein absurdes Ziel. Der Vereinzelung, Vereinsamung und Verantwortungslosigkeit entgegenzuwirken, Institutionen des menschlichen Zusammenhalts zu fördern, die Solidarität und Verbindlichkeit gemeinsamer Werte und nicht internetbesoffenes „anything goes“ zu propagieren – das ist heute fortschrittlich.
Dass zu Rechten auch Pflichten gehören, dass soziale Gerechtigkeit nicht an der Höhe der öffentlichen Ausgaben zu messen ist, dass die unsozialste Umverteilung zu Gunsten der Vermögenden die Zinszahlungen für die immense Staatsverschuldung sind, die jährlich im Umfang von 120 Milliarden Mark den Banken und den vermögenden Kreditgebern zugute kommen – diese Einsichten gelten in unserer Partei längst noch nicht als selbstverständlich.
Wir brauchen ein positives, kein misstrauisches Verhältnis zur Leistung. Denn nicht die soziale Herkunft, sondern die Leistung des Einzelnen soll über seine Chancen in der Gesellschaft entscheiden. Voraussetzung solcher Chancengerechtigkeit ist der lebenslange Zugang zu Bildung und Weiterbildung für alle. Zugang allein reicht aber nicht, Leistung muss in Schule und Hochschule dann auch ermöglicht, gefordert, geprüft und bescheinigt werden. Die Nivellierung von Bildungsabschlüssen wertet soziale Ungleichheiten wieder auf und hilft nur den ohnehin durch Besitz und Beziehungen Begünstigten.
Diese und andere Punkte passen nicht mehr recht ins Schema des 89er Programms, auch nicht nach der eiligen, diskussionslosen Nachbesserung auf dem Leipziger Parteitag 1998. Weil es gute Tradition unserer Partei ist, ihre Grundsätze und Praxis immer wieder in Übereinstimmung zu bringen – seit 130 Jahren schon –, sollten wir jetzt mit der Debatte beginnen. Es wird unser achtes Grundsatzprogramm.