Nichts kann so bleiben, wie es ist. Deshalb bedeutet heutiges Wohlergehen wenig. Ruhe ist trügerisch, Stabilität Illusion. Die Bedürfnisse wachsen, es wachsen die Möglichkeiten, immer schneller wechseln die Moden. Wir stehen am Abgrund. Es muss etwas geschehen. Hart. Schnell. Entscheidend. Wer wagt die Tat? – So fühlte sich das an in Deutschland 1913/14. Nicht die Welt der Tatsachen spielte zunächst verrückt, sondern die Nerven. Der Historiker Joachim Radkau spricht rückblickend von einem „Zeitalter der Nervosität“. Dann kam der Krieg, der der erste Weltkrieg werden sollte.
Berlin im Frühjahr 2003: Die Nerven liegen blank. Eine nervöse, sich aufschaukelnde öffentliche Meinung verlangt innenpolitische Grausamkeiten, radikale Einschnitte, endlich die Wahrheit, eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Politik, damit Deutschland überhaupt weiter existieren kann. Dagegen laufen die Gewerkschaften Sturm. Unsere Bundestagsfraktion nennt diese Stimmung „hysterisch“, dringt damit aber gegen die Medien kaum noch durch. Gleichzeitig nimmt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft weiter zu, der Handelsbilanzüberschuss wächst, der Euro steigt – egal. Es geht nicht um Tatsachen. Wenn die Leute sagen, Du bist pleite, dann bist Du pleite, lautet ein altes jüdisches Sprichwort. Oder in den Worten des früheren Regierungssprechers Peter Boenisch: Nicht Tatsachen verändern die Welt, sondern Meinungen über Tatsachen. Deshalb sind auch radikale öffentliche Meinungen, sind Nervosität oder Hysterie nicht folgenlos. Sie verändern die politische Entscheidungssituation.
Was in dieser Situation der Sozialdemokratie mehr fehlt als zu jener guten alten Oppositionszeit, da man sich an Helmut Kohl abarbeiten und vor dem Neoliberalismus warnen konnte, ist ein verbindliches, aktuell gültiges Grundsatzprogramm – die lange Linie, der rote Faden. Das sagen inzwischen fast alle Genossinnen und Genossen. Die SPD ist eine Programmpartei, die programmatische Unsicherheit, zu Recht, nicht gut ertragen kann.
Deshalb hat der Parteitag im Dezember 1999 ein neues Grundsatzprogramm in Auftrag gegeben. Das neue wäre dann das achte Parteiprogramm in 140 Jahren Sozialdemokratie – nach Eisenach (1869), Gotha (1875), Erfurt (1891), Görlitz (1921), Heidelberg (1925), Bad Godesberg (1959) und Berlin (1989).
Es wird eine nachholende Programmdiskussion, denn das letzte, das „Berliner Programm“ war schon nicht mehr aktuell, als es im Dezember 1989 beschlossen wurde, in dem historischen Moment, als sich gerade die ganze Welt änderte. So ist es – jahrelang gründlich vorbereitet – das sozialdemokratische Schlussdokument der westdeutschen Bundesrepublik geworden. Es formuliert das progressive Selbstverständnis seiner Zeit, der 70er und 80er Jahre.
- Das Staats- und Gesellschaftsbild ist sehr institutionenskeptisch, zum Teil betont antiautoritär.
- Anknüpfend an den damaligen Aufschwung der neuen sozialen Bewegungen ist der Text geprägt von einer gewissen empfindsamen Befindlichkeitsrethorik: Er ist geprägt von der Furcht vor großem Krieg, Furcht vor großer Technik, Furcht vor der großen Öko-Apokalypse.
- Die Rangfolge der Themen lautet: Frieden, Ökologie, soziale Gerechtigkeit.
- Und soziale Gerechtigkeit begann damals, politisch sehr korrekt, mit dem Ausgleich zwischen Nord und Süd.
Symbolisch für diese gesinnungsstarke SPD, die mit aller Welt solidarisch sein wollte und im eigenen Land weit entfernt war von der Macht, mag das offizielle Parteilied vom Weichen Wasser stehen, das damals gesungen wurde (Text und Musik: Dieter Dehm – zu der Zeit noch SPD-Mitglied, zur Zeit richtet er gerade die PDS zugrunde). Der Refrain lautet:
„Und sind wir schwach,
und sind wir klein,
wir wollen wie das Wasser sein.
Das weiche Wasser bricht den Stein.“
Seit 1989 hat sich inzwischen vieles verändert: Das größte der alten Probleme, der Kalte Krieg, die Spaltung der Welt in zwei feindliche Militärblöcke, ist überwunden. Die Themenrangfolge ändert sich. Und das wiedervereinigte Deutschland hat seit zehn Jahren auch ein paar neue Probleme – Probleme, die wir uns eigentlich immer gewünscht haben.
Warum wurde da nicht gleich ein neues, der neuen Zeit gemäßes Programm in Angriff genommen?
Ich glaube, unsere Partei war die ganzen 90er Jahre über zu sehr beschäftigt mit Personalpolitik, mit den internen Ausscheidungskämpfen unserer „Enkel“-Elite.
In diesen Jahren sind Oskar Lafontaine, Björn Engholm, Rudolf Scharping und Gerhard Schröder jeweils zu Kanzlerkandidaten nominiert und jeweils zu Parteivorsitzenden gewählt worden. Vier Brandt-Nachfolger, zwei Ämter, acht jeweils die ganze Republik bewegende Personalentscheidungen. Das ist nun durchgestanden, der Regierungswechsel hat endlich stattgefunden, und die innerparteiliche Konkurrenz ist zu einem guten Ende gekommen. Gerhard Schröder ist heute der am längsten amtierende Parteivorsitzende der Nach-Brandt-Ära und nach Helmut Schmidt der am längsten amtierende SPD-Kanzler aller Zeiten. Jetzt, erstaunlicherweise in der Regierungsverantwortung, ist Zeit für Programmarbeit.
Einige wichtige Stichworte, die heute zentral sind, tauchen in dem alten Papier noch gar nicht auf, zum Beispiel:
- Staatsverschuldung,
- Generationengerechtigkeit
- oder auch nur UNO-Blauhelme, geschweige denn eine (EU-)europäische Interventionstruppe, wie sie jetzt geplant ist,
- keine Position zu internationalem Terrorismus und religiösen Fanatismus.
Die Aufgabe des neuen Grundsatzprogramms wird es also sein, überhaupt erst einmal den Anschluss an die Wirklichkeit wiederherzustellen. Tatsächlich ist – bei allen Schwierigkeiten – die Regierungs-SPD der Programm-SPD im Augenblick weit voraus. Es sollte umgekehrt sein.
Der verbreiteten Klage allerdings, es mangele der SPD überhaupt an großen Ideen, können einige noch lange gültige sozialdemokratische Visionen entgegengehalten werden:
- Da ist noch immer das große Ziel des geeinten Deutschland (von Lassalle über Schumacher und Brandt bis Stolpe und Regine Hildebrandt).
- Da ist die Vision eines friedlich sich einigenden Europas (entsprechend dem Heidelberger Programm von 1925).
- Wir sind einig in dem universellen Streben, der Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren zum Durchbruch zu verhelfen – im Betrieb wie auf der Weltbühne.
- Wir streiten für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen.
- Es geht uns um die Chance eines jeden, sein Leben ohne vermeidbare Furcht vor Lebensrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit, ohne Ansehen von Herkunft und Geschlecht, selbst zu gestalten, frei zu sein, sich binden zu können und sein Glück zu suchen. Diese Freiheit ist immer wieder neu zu erkämpfen. Und das geht nur gemeinsam, nur solidarisch.
- Und schließlich: Wir wollen niemanden zurücklassen. Das hört sich so einfach an und ist doch das Schwerste überhaupt: niemanden zurückzulassen.
Die Zeiten allerdings ändern sich. Sie ändern sich mit und ohne unser Zutun. Weil wir Sozialdemokraten sind, wollen wir den Wandel gestalten.
Um welche Wandlungen der Gesellschaft geht es? Es sind vier große Bewegungen, die mir wichtig und mächtig erscheinen:
- erstens, die altbekannte Antriebskraft, die wir technischer Fortschritt nennen,
- zweitens, die Globalisierung,
- drittens, der Wertewandel, der mit der Individualisierung einhergeht, und
- viertens, der demographische Wandel.
Technischer Fortschritt, Globalisierung und Wertewandel haben schon die Väter der sozialdemokratischen Programmtradition beschäftigt, etwa in dem Bild von Basis und Ãœberbau, von Technik und Gesellschaft, das Karl Marx in dem Vorwort zu seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“ zeichnet. Er schreibt 1859:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Ãœberbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt (…). Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Ãœberbau langsamer oder rascher um.“
Wie sich dieser gesellschaftliche Überbau im Zuge der Industrialisierung umwälzt, beschrieben Marx und Friedrich Engels schon 1848:
„Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“
Dies ist und bleibt der Widerspruch unseres Zeitalters:
- Die Ökonomie fordert mehr denn je Flexibilität, Kurzfristigkeit.
- Die Menschen aber brauchen Sicherheit, Langfristigkeit, um ihr Leben außerhalb der Erwerbsarbeit selbst frei gestalten zu können.
Zwischen diesen beiden Polen, Flexibilität und Sicherheit, wird der Freiheitsdiskurs der Zukunft geführt.
Dabei müssen wir uns aber politisch nicht für die eine oder für die andere Seite entscheiden, sondern eine vernünftige Balance finden, das rechte Maß, ein gut sozialdemokratisches „Ja-Aber“.
Neue Technik: Ja. Sie hilft, Ressourcen zu sparen, die natürliche Umwelt zu schützen, mehr Wohlstand mit weniger Aufwand zu produzieren.
Aber: Wir müssen auch unsere soziale Umwelt schützen. Technik ist kein Selbstzweck. Und die Freiheit des globalen Kapitalverkehrs ist kein Ersatz für die Freiheit jedes einzelnen Menschen, sein Leben selbst zu bestimmen.
Gegenwärtig erleben wir einen Modernisierungsschub, der zu einem Teil ausgelöst ist durch neue Technik, durch Computer im Büro und Computer in der Produktion. Manche nennen das „digitalen Kapitalismus“.
Aber die neue Technik rechtfertigt es nicht, die Menschen sozial heimatlos zu machen. Zur Zeit wird in der Modernisierungsdebatte ein Menschen- und Gesellschaftsbild propagiert, das gruselig ist. Der flexible Mensch, der zum noch flexibleren Kapitalismus passen soll, ist
- jung,
- gut ausgebildet,
- durchsetzungsstark,
- bereit jederzeit umzuziehen,
- ohne ernsthafte Bindung außerhalb seines Berufs,
- allein interessiert an Karriere und Geldverdienen.
Die wirtschaftliche Modernisierung treibt so die Individualisierung weiter voran: Mehr Menschen leben als Singles, freiwillig und unfreiwillig. Familien kommen immer später zustande, sind immer kleiner und lösen sich immer schneller auf. Alle großen Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, von der Kirche bis zum Sportverein, klagen über rückläufige Mitgliederzahlen.
Die überwältigende Mehrheit der jungen Menschen wünscht sich, auf Pläne für die Zukunft angesprochen, eine eigene Familie mit Kindern.
„Aber so sehr wir die Bindungen heimlich wünschen“, schreibt die Berliner Journalistin Tissy Bruns, „so wenig vertragen sie sich mit den unendlichen Möglichkeiten der Selbstentfaltung, mit Tempo, Mobilität und Konkurrenz. Wer beides will, führt fast ein Doppelleben: Wie unglaublich fern und fremd ist die Berufswelt der Familienwelt.“
Da liegt eine wesentliche Aufgabe unserer Politik: Familie und Beruf müssen für Mütter und Väter zu gleichen Teilen und nach Wahl, so gut es geht, vereinbar werden. Vereinbar durch:
- gute Kindergärten mit langen Öffnungszeiten,
- kalkulierbare Schulzeiten,
- bessere Erziehungsurlaubsregelungen,
- flächendeckende Ganztagsschulangebote jeder Schulart in jedem Kreis,
- bezahlbare Haushaltsdienstleistungen,
- realistische Steuerfreibeträge sowie eine echte finanzielle Familienförderung.
Wandeln muss sich auch das gesellschaftliche Wertesystem, das heute bei uns den unflexiblen, müden, sparsamen Eltern immer noch die Rolle der Dummen zuweist. Deshalb muss eine wichtige Botschaft unseres neuen Parteiprogramms der Schutz unserer sozialen Umwelt sein; das Gegenteil von Flexibilität: Eine sichere soziale Umwelt für Eltern und Kinder!
Eine solche Politik wäre auch gut, um der vierten großen Veränderungstendenz unserer Zeit, dem demographischen Wandel entgegenzutreten. Ich glaube, die Dimension des Problems ist uns in der SPD und in Deutschland noch nicht wirklich klar. Es ist, wenn alles so weitergeht, die größte, einschneidenste Veränderung, vor der wir stehen.
Wenn dieses Land ein gewaltiges soziales Problem hat, dann das, dass seine Bevölkerung dabei ist, sich selbst abzuschaffen. In Deutschland werden zwei Erwachsene seit längerem nur noch durch 1,3 Kinder ersetzt, und nichts spricht dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. In den meisten anderen europäischen Ländern gibt es ähnliche Trends. Deutschland wird schrumpfen und vergreisen.
Das Fatale an diesem Problem ist, dass es zwar völlig absehbar, aber in seinen Konsequenzen noch nicht aktuell ist. Noch schrumpft Deutschland nicht, wir haben 82,5 Millionen Einwohner und bleiben in dieser Größenordnung sogar noch eine Weile stabil; knapp die Hälfte der Bevölkerung ist erwerbstätig und erarbeitet den Wohlstand, von dem auch Kinder, Lehrlinge und Studentinnen, Arbeitslose, Kranke und Behinderte, Rentnerinnen, Pensionäre und Pflegebedürftige zehren.
Erst ab 2007 werden zunächst die Schülerzahlen stark zurückgehen. Bei den Studierenden wird der Einbruch 2008 erwartet. Ab 2020 steigt die Zahl der Rentner sprunghaft an, dann gehen die Kinder des Babybooms von Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in den Ruhestand. Das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen, das heute 1:2,9 beträgt, entwickelt sich auf 1:1,4 2030. Sowohl die Rentner- als auch die Erwerbsgenerationen dieser so fern scheinenden Zukunft sind längst geboren. Nur Seuchen oder ein Krieg könnten die Proportionen noch wesentlich verändern.
Heute schon läßt sich die Anzahl der Neuruheständler 2063 ziemlich exakt vorausberechnen. Die letzten von ihnen erblicken gerade jetzt das Licht der Welt. Wenn sich nichts dramatisch ändert, käme bereits im Jahr 2050 auf einen Erwerbstätigen ein Rentenempfänger.
Diese schleichende demographische Katastrophe wirkt sich auf alle Teile unseres Sozialversicherungssystems aus, nicht nur auf die Rente. Die Versicherungsbeiträge, die den Faktor Arbeit belasten, müssten steil nach oben gehen, weil mehr und mehr ältere Menschen länger alt, krank und pflegebedürftig sein werden.
Um die zwangsläufigen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme abzuwenden oder jedenfalls abzuschwächen, läßt sich manches ausdenken. Nur gibt es eben keinen politischen Trick, keinen ideologischen Zauber, der den Fluch in einen Segen verwandelte. Die Lasten des Problems der millionenfachen individuellen Weigerung, durch Kinder für die Zukunft vorzusorgen, können nur anders verteilt werden, aber es bleiben Lasten. Und es sind Lasten, die nicht bedauerlicherweise infolge schlechter Politik nun von der Gesellschaft getragen werden müssen, sondern diese Lasten entstehen, weil unsere deutsche (und manch andere europäische) Gesellschaft, so wie sie ist, mit ihren Werten, ihren Freiheits- und Selbstverwirklichungsidealen, die übliche Lösung sabotiert: Nachwuchs.
Welche Abhilfe ist grundsätzlich möglich?
- Erstens, ein großer Mentalitätswandel. Es ist ja mehr eine Frage der geistigen Haltung unserer Gesellschaft als eine Frage der politisch bestimmten jeweiligen Höhe des Kindergeldes. Ist solch ein Haltungswandel kurzfristig sehr wahrscheinlich? Nein – auch wenn insbesondere sozialdemokratische Politik einiges tut, um materielle Nachteile auszugleichen und die bessere Verbindung von Familie und Beruf zu fördern. Familienpolitik wird nachwuchspolitisch wohl wenig bewirken, aber sie bleibt richtig, weil es immer auch um Gerechtigkeit geht.
- Zweitens, Zuwanderung. Alle demographischen Prognosen gehen ohnehin von mehr oder weniger starken Immigrationsbewegungen aus. Zum kompletten Schrumpf-Ausgleich wären allerdings gewaltige Migrantenströme nötig. Woher sollen diese freundlicherweise kommen? Unsere alt- und neueuropäischen Nachbarländer in der EU, deren Bürger hier gut integrierbar wären, schrumpfen überwiegend mit uns um die Wette. Wanderer aber aus größerer Ferne bringen Probleme mit, die wir seit einigen Jahrzehnten kennen, doch selbst für viele der hier lebenden „Gastarbeiter“- und Flüchtlingskinder der zweiten und dritten Generation noch nicht gelöst haben.
- Drittens, Eigenvorsorge. Das ist das sozialpolitische Zauberwort des FDP-Liberalismus und seiner Nachplapperer in allen Parteien. Der Begriff „Eigenvorsorge“ unterstellt, dass angelegtes Vermögen, das man für sich selbst besitzt, einen mit seinen Erträgen auch dann ernähren wird, wenn die anderen am Hungertuch nagen. Tatsächlich können jedoch alle Arten von systematischer Vorsorge nur so erfolgreich sein, wie die Wirtschaft jeweils zum Zeitpunkt des Leistungsbedarfs. Wenn alles stagniert, bringen auch Aktien und Mietshäuser wenig ein. Eigenvorsorge ist deshalb nicht wirklich sicherer als beitrags- oder steuerfinanzierte Leistungssysteme, allerdings angesichts der Demographieentwicklung unschädlich für den Faktor Arbeit. Von den drei Möglichkeiten – Beiträge, Steuern, Kapitalerträge – ist die sogenannte Eigenvorsorge das am wenigsten solidarische Modell.
- Viertens, Umstieg von der beitrags- zur steuerfinanzierten sozialen Sicherheit. Dazu bedürfte es keiner völligen Neuerfindung des Sozialstaates. Schon heute existiert beides nebeneinander: reine Steuerfinanzierung (Kindergeld, Erziehungsgeld, Bafög, Wohngeld, Eigenheimförderung, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe) neben gesetzlicher Umlagefinanzierung über Beiträge (Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung).
Soziale Sicherheit, egal in welchem System, ist nur zu finanzieren aus dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand zum tatsächlichen Zeitpunkt der Leistungserbringung. Bei unserer negativen Bevölkerungsentwicklung wird das Beitragsmodell zunehmend prekär; es untergräbt seine eigenen Grundlagen, indem es Arbeit weiter verteuert. Das Eigenvorsorgemodell ist möglich aber unsolidarisch; wenn jeder seine allgemeinen Lebensrisiken privat versichern müsste, fiele dies den Beziehern kleiner Einkommen ungleich schwerer als den Besserverdienenden. Es kann nur jeweils eine Ergänzung sein.
Für Sozialdemokraten muss deshalb die Zukunft dem Steuermodell gehören. Wir brauchen eine sozial gerechte Antwort auf das immer so harmlos „demographischer Wandel“ genannte Superproblem. Wichtig ist, dass den politisch Handelnden wie der Bevölkerung klar ist, in welche Richtung der Umbau unserer alten Sozialversicherung gehen muss – und warum wir das tun. Wichtig wäre deshalb ein sichtbarer großer erster Umbauschritt jetzt. Die Zeit ist reif. Die Öffentlichkeit erwartet von uns mehr als Klein-Klein, mehr als kurzfristige Reaktionen auf die jeweils aktuelle konjunkturelle Lage, mehr als die eine Beitragssatzerhöhung hier, die andere Kostendämpfung da, eine weitere Leistungskürzung dort. Unsere Strukturreform muss als solche erkennbar, darf nicht als „Sozialabbau“ denunzierbar und muss gut begründet sein: Zur Ablösung von Beiträgen durch Steuern und damit zur Senkung der Lohnnebenkosten müssen Steuereinnahmen in dem gleichen Umfang steigen wie Beiträge reduziert oder abgeschafft werden.
Wir schreiben also nach 140 Jahren ein neues, unser achtes Programm. Ist das überhaupt modern, ein Parteiprogramm? Dazu schreibt der Politikwissenschaftler Franz Walter: „Es ist wohl in der Tat so, dass die deutschen Parteien im 20. Jahrhundert vielfach zu programmlastig waren, dadurch oft starr, blockiert und dogmatisch wirkten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts aber droht die Gefahr von der anderen Seite: Die Parteien haben ihren programmatischen Ort verloren; den Mitgliedern fehlt der ideele Treibstoff für ehrenamtliches Handeln. Der Abschied vom Programm hat die Parteien dabei nicht freier gemacht. Er hat ihnen die historische Sicherheit und Würde genommen, hat Loyalitäten reduziert, hat ihre Stabilität beeinträchtigt. Die programmlosen Parteien sind abhängiger geworden: von den Einflüsterungen und Kurzatmigkeiten der Demoskopen, von den Konjunkturen der politischen Leitartikel, von den Launen einer zappenden Telezuschauerschaft.“
Darum, Genossinnen und Genossen, laßt uns Programmpartei bleiben. Laßt uns wieder über den roten Faden, die lange Linie unserer Politik diskutieren. Wir sollten diese Diskussion nicht durch reflexhafte Appelle zur Geschlossenheit unterdrücken. Wir brauchen immer ein vernünftiges sozialdemokratisches „Sowohl-als-auch“: sowohl Offenheit als auch Geschlossenheit, sowohl alte Werte als auch neue Ideen.