Beitrag in der Tageszeitung "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 20. Mai 2003

Mein Traum vom Ruck geht so: Eines Morgens werden wir aufwachen und aus dem Radiowecker hören, daß sich in der Nacht die Koalitionsspitzen mit der Oppositionsführung darauf geeinigt haben, die Mehrwertsteuer um fünf Prozentpunkte auf dann 21 Prozent zu erhöhen und im Gegenzug die Lohnnebenkosten um ebenfalls fünf Prozentpunkte auf 37 Prozent zu senken. Fünf gegen fünf Prozentpunkte – die Rechnung geht zufällig so schön systematisch auf: Es sind 40 Milliarden Euro hier und 40 Milliarden Euro da.

Das wäre ein wegweisendes Signal, ein großer Schritt in die richtige Richtung, ein substantieller Ruck mit psychologischem Turbo. Klotzen statt Kleckern: Nur so gewinnt die Reform unseres Sozialstaates Gestalt, nur so wird spürbar, worum es geht, nämlich um die Abkopplung der Finanzierung unserer sozialen Sicherheit vom Faktor Arbeit. Versicherungsbeiträge auf die Löhne und Gehälter abhängig Beschäftigter müssen ersetzt werden durch allgemeine Steuern. Das geht übrigens nur im Konsens der großen politischen Kräfte dieses Landes – zum einen, weil diesem ersten großen Schritt in den kommenden Jahrzehnten, egal wer dann regiert, weitere folgen müssen, und zum anderen, weil sich heute die unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sonst blockieren würden.

Blockiert und verzerrt ist heute noch die öffentliche Debatte über die ganze große bevorstehende Sozialstaatsreform. Das Große verschwindet hinter dem Kleinen, das langfristig Richtige hinter dem kurzfristig Akzeptablen. Gerhard Schröder hat bei früherer Gelegenheit einmal selbstkritisch eingeräumt, daß im rot-grünen Reformeifer am Anfang seiner Regierung nicht immer klargeworden sei, was jeweils das wirkliche Problem sei, dem durch Gesetzesänderung abgeholfen werden sollte. So erschien dann die geplante Neuregelung selbst als das eigentliche Problem. Genau dies erleben wir jetzt gerade wieder mit der „Agenda 2010“.

Für diejenigen, die über wirkliche Probleme reden, geht es um das aktuell Naheliegendste, um die überraschend hartnäckige Konjunkturschwäche und damit verbunden die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Deshalb müssen die Beiträge der einzelnen Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur Krankenversicherung heute, demalten Automatismus folgend, steigen. Für den Arbeitsmarkt wäre die Gegenrichtung sehr viel besser, die Lohnnebenkosten müßten sinken.

Sinken und am Ende ganz weg vom Faktor Arbeit müßten die Sozialversicherungsbeiträge aber vor allem aus einem anderen Grund: wegen der negativen Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. Immer weniger Arbeitenden werden künftig immer mehr sozial Leistungsberechtigte gegenüberstehen. Was in freundlicher Semantik gern als „demographischer Wandel“ oder „veränderter Altersaufbau unserer Gesellschaft“ daherkommt, bezeichnet einen gesellschaftlichen Supertrend, von dem ein beinah unmittelbarer Zwang zur Reform ausgeht. Wenn sich die deutsche Geburtenrate nicht radikal ändert, werden in diesem Land die heute Aktiven in der nächsten Generation durch 1,3 Nachgeborene ersetzt, diese wiederum in der dritten Generation durch 0,85. Ihnen folgen in Generation vier gerade noch 0,55 Menschen. Diese Reduzierung auf ein Viertel in vier Generationen wird gegenwärtig noch etwas verdeckt durch eine steigende individuelle Lebenserwartung, so daß die Gesamtbevölkerungszahl noch kaum zurückgeht (der Rückgang tritt später um so rapider ein), und durch Zuwanderung (und eine etwas höhere Geburtenhäufigkeit in den Migrantenfamilien). Besonders exklusiv trifft uns dieser existentielle Schrumpf- und Ãœberalterungstrend nicht, die meisten unserer europäischen Nachbarn leiden unter der gleichen Tendenz.

Wie immer wir aber in Zukunft die sozialen Sicherungen für Alter und Pflegebedürftigkeit, gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit konstruieren, auf welchem Leistungsniveau, von welchem Alter an, zu welchen Bedingungen – eins ist klar: Die Finanzierung der Leistungen kann nicht durch das Versicherungsprinzip an den Faktor Arbeit gebunden bleiben. Was aus dem Wohlstand der ganzen Gesellschaft an die wachsende Zahl der Leistungsberechtigten verteilt wird, muß aus anderen Quellen schöpfen: Steuerquellen. Liberale erwarten vielleicht, daß jeder einzelne sich nach seinem individuellen Vermögen gegen die ihm wichtig scheinenden Risiken seiner Wahl selbst privat versichern möge. Einen solchen Weg muß man aber nicht für sicherer halten. Und solidarisch, für alle gerecht, sozialdemokratisch ist er schon gar nicht.

Unsere Botschaft kann nur lauten: Laßt uns Sozialversicherungsbeiträge durch Steuern ersetzen! Eine denkbare Steuerquelle dafür ist leider gerade dabei zu versiegen. Die große rot-grüne Steuerreform 1999 bis 2005, gedacht als Konjunkturprogramm zur Verbesserung der staatlichen Angebots- und Nachfragebedingungen am Standort Deutschland, wird von 2005 an, wenn die letzte Senkungsstufe (auf 15 bis 42 Prozent) in Kraft ist, Arbeitnehmer und Unternehmen um 56 Milliarden Euro jährlich entlasten. 56 Milliarden Euro, auf die der Staat gegenüber den Unternehmens- und Einkommensteuersätzen von 1998 verzichtet. Damit hätten wir – ganz ohne Steuererhöhungen – die Lohnnebenkosten glatt um sieben Prozentpunkte auf 35 Prozent senken können. Das ist vorbei. Wir müssen heute anders träumen.