Beitrag in der Tageszeitung "Neue Zürcher Zeitung" vom 11. Juni 2003

Die deutsch-amerikanischen Auseinandersetzungen über den Irak-Krieg haben die Frage aufgeworfen, welche Außen- und Sicherheitspolitik die deutsche Regierung künftig betreiben will. Der Autor, Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestags und stellvertretender verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, plädiert für vermehrte europäische Anstrengungen, um außen- und sicherheitspolitisch als gleichwertiger Partner der USA bestehen zu können.

„Die Vereinigten Staaten besitzen ein beispielloses und unvergleichliches Maß an Stärke und Einfluss in der Welt.“ So beginnt zutreffend der Bericht des amerikanischen Präsidenten zur Nationalen Sicherheitsstrategie, vorgelegt ein Jahr nach den Terroranschlägen von New York und Washington. Die militärische Stärke der USA wirkt inzwischen allerdings nicht nur gegenüber Nicht-Nato-Staaten im Verhältnis abschreckend, sondern bestimmt innerhalb des transatlantischen Bündnisses auch immer mehr das Verhältnis der USA zur europäischen Rest-Nato. 2001 wandten die USA 320 Milliarden Dollar für Verteidigungszwecke auf, alle 17 europäischen Nato-Partner gemeinsam brachten es auf 180 Milliarden. Nach Truppenstärke lagen die Europäer mit 2,3 zu 1,3 Millionen aktiven Soldaten deutlich vom, was die europäische Schwäche freilich noch unterstreicht: Nicht moderne Ausrüstung, sondern hohe Kopfzahlen kosten hier das meiste Geld.

Viel Geld für den Eurofighter

Die deutsche Bundeswehr, mit ihrer Sollstärke von 285 000 Uniformträgem weiterhin drittstärkste Streitmacht im Bündnis (nach den USA und der Türkei), muss in den Jahren 2003 bis 2006 viermal mit jeweils dem gleichen Jahresbudget von 24,4 Milliarden Euro auskommen. Der Investitionsbedarf nach bisheriger Rüstungsplanung steigt allerdings von Jahr zu Jahr, auf sechs Milliarden 2006. Durch die Finanzplanung gedeckt sind davon gerade 4 Milliarden Euro. Das heißt, ein Drittel der geplanten Investitionen ist nicht finanzierbar.

Deshalb hat der deutsche Verteidigungsminister Struck eine Nachbesserung der Bundeswehr-Reform veranlasst. Welches alte Gerät kann früher als geplant außer Dienst gestellt werden? Welche neuen Vorhaben sind entbehrlich? Wie können Beschaffungsprogramme gestreckt und Stückzahlen reduziert werden? Vom Transportflugzeug A 400 M wird Deutschland nicht mehr 73, sondern nur noch 60 Stück bestellen. Und der neu zu entwickelnde Luft-Luft-Flugkörper Meteor wird von 1488 auf 600 Exemplare gekürzt. Von 300 Tornado-Jagdbombern sollen 90 stillgelegt werden. Der 1980 eingeführte Tornado belastet nach wie vor jedes Jahr den Investitionshaushalt mit einer Viertelmilliarde Euro für die Verlängerung der Nutzungsdauer sowie für neue Elektronik und Waffen.

Ähnlich raumgreifend zieht das Eurofighter-Projekt in den Haushalt ein. Mitte der siebziger Jahre als „Jäger 90“ gestartet, sollen Ende 2003 die ersten Flugzeuge, wenn sie bis dahin funktionieren, an die Luftwaffe ausgeliefert werden. Sie lösen die sehr alten Phantom F-4F und die MiG-29 aus DDR-Beständen ab, später auch den Tornado in seiner Rolle als Jagdbomber. Dafür sind bisher insgesamt 177 Eurofighter vorgesehen, Gesamtkosten 25 Milliarden Euro. Auch wenn die Vertragslage klar scheint, bleibt offen, ob im Jahr 2015 wirklich 177 Eurofighter den Himmel über Deutschland schützen. Denn nicht nur der A 400 M (8 Milliarden Euro) muss erst noch in der unterfinanzierten Rüstungsplanung untergebracht werden, auch die Modernisierung der jahrzehntealten bodengebundenen Luftabwehr wird andere Projekte in Frage stellen.

Keine Universalarmee mehr

Das Heer erwartet Abstriche beim Transportpanzer GTK und beim Panzerabwehrhelikopter Tiger; dafür soll auf jeden Fall ein neuer Schützenpanzer (Igel) kommen. Die Debatte um den Ersatz des 30 Jahre alten Transporthelikopters CH-53 hat durch einen Absturz in Afghanistan Aktualität erhalten. Dass Panzertruppe und Artillerie noch einmal reduziert werden müssen, ist offenkundig. Die deutsche Marine wird ihre Schnellbootflotte verkleinern und ältere Fregatten länger fahren müssen. Ein neues Patrouillenflugzeug wurde hingegen vom Verteidigungsminister zugesagt. Eine substanzielle Erhöhung des Verteidigungsetats ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Vielleicht kann es Zuschläge für mögliche zusätzliche Auslandeinsätze geben, aber es wäre schon ein Erfolg des Verteidigungsministers, wenn der Militäranteil von heute 10 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes über 2006 hinaus nicht weiter sinkt. Anfang der achtziger Jahre beanspruchte die Bundeswehr noch 20 Prozent des Gesamtetats.

Alle diese Überlegungen machen deutlich, dass die Bundeswehr keine Universalarmee werden kann. Sie war nie eine Universalarmee und muss es auch in Zukunft nicht sein. Natürlich gibt es noch dieses absolute Souveränitätsdenken, wonach deutsches Militär alles selbst können muss. Das ist aber nicht das Ideal sozialdemokratischer Sicherheitspolitik. Die Deutschen waren, als es vor allem um ihre eigene Sicherheit ging, auf starke Bündnispartner angewiesen, die über Mittel verfügten, die Seewege über den Atlantik offen zu halten und auch den Luftraum über Deutschland. Warum sollten wir denn jetzt, da wir heute vor allem ein Partner für andere sind, den Anspruch erheben, ganz allein handeln zu können?

Arbeitsteilung in Europa

Die Bundeswehr muss heute verlegefähiger sein, durchhaltefähiger und zusammenarbeitsfähiger. Zusammenarbeit ist aus Kostengründen und wegen der vielfältigen Koalitionen auf den Interventionsschauplätzen dieser Welt das Gebot der Stunde. Wenn wir eine gewisse Arbeitsteilung in EU-Europa und in der Nato wollen, dann müssen wir etwas tun, was Soldaten gewiss ungern tun, nämlich erklären, was nun wirklich unsere Stärken sind und wo wir uns auf die Fähigkeiten anderer verlassen wollen.

Dabei steht es uns gut an, bei den besonders komplexen, anspruchsvollen Aufgaben gemeinsam mit Frankreich, Großbritannien und Italien voranzugehen. Marineflieger, Sanität, Aufklärung oder eine mobile bodengebundene Luftabwehr werden für andere europäische Bündnispartner, für Polen oder Portugal, noch schwerer bereitzustellen sein als für die großen Länder Europas. Der Mut zur Erweiterung der Nato wird nur dann praktisch, wenn wir uns auch zutrauen, zu differenzieren und die Fähigkeiten der einzelnen Partner innerhalb des neuen Ganzen zu spezialisieren. Dabei wird der von dem Vierertreffen Belgiens mit Deutschland, Frankreich und Luxemburg ausgehende Impuls zu verstärkter militärischer Zusammenarbeit sich nicht auf diese Nationen beschränken können. Nato- und EU-Europa sind schon kompliziert und differenziert genug, so dass auf dem Weg zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität keine Unter- und Zwischenidentitäten mehr nötig sein sollten.

Weiterhin auf Amerika angewiesen

Wenn man gewisse politische Stimmen diesseits des Atlantiks hört, könnte man meinen, wir stünden kurz vor dem Beginn eines neuen Wettrüstens mit unserem größten Verbündeten, den USA. Wir Europäer müssten alles, was die Amerikaner haben, auch haben, um ernst genommen zu werden. Dieses transatlantische Konkurrenzdenken geht in die Irre. Wir brauchen gewiss manch neue und zusätzliche Fähigkeit in den europäischen Streitkräften, aber nicht immer mehr von dem Gleichen, was der amerikanischen Politik zur Verfügung steht. Niemand sollte sich teuren Illusionen hingeben: Die großen Konflikte dieser Welt sind ohne oder gegen die USA nicht lösbar. Und sie sind aus unserer Sicht auch kaum in erster Linie militärisch lösbar. Wenn aber doch, dann werden es nicht die Europäer sein, die ohne amerikanische Beteiligung oder gegen den Rat der USA militärisch intervenieren.

Der Historiker Heinrich August Winkler schreibt in einem Zeitschriftenbeitrag über die neue Nato, Amerika militärisch einholen und selbst zur Supermacht werden – niemand käme auf den Gedanken, der EU ein derart unrealistisches Ziel anzusinnen. Aber nötig sei ein Mindestmaß gemeinsamer militärischer Kapazitäten, um in Fragen der eigenen Sicherheit nicht nur auf die USA angewiesen zu sein. Um auf gleicher Augenhöhe mit den Amerikanern in der Uno wie in der Nato über die gemeinsame Sache des Weltfriedens verhandeln und gegebenenfalls handeln zu können, braucht Europa das Bewusstsein gemeinsamer Stärke.

Es ist ein faszinierendes Gedankenspiel, sich den fundamentalen Bedarf an EU-Streitkräften vorzustellen – unter der Annahme, es gebe einen europäischen Präsidenten, eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, einen europäischen Außen- und einen Verteidigungsminister. Auch gegenüber dieser Armee wären die Streitkräfte der USA unvergleichlich stark. Doch die europäische Armee wäre kleiner, moderner und schlagkräftiger als heute und kein Grund mehr für ein permanent schlechtes Gewissen.