Beitrag in der Zeitschrift „Berliner Republik“ (1/1999) vom 5. Oktober 1999
1. Von Berlin aus. „Dümmlich“, sagt Altkanzler Kohl, sei das Gerede von Bonner und Berliner Republik. Nur ein Umzug von Büros und Sitzungssälen, nichts weiter! Die Honoratioren der guten alten Bundesrepublik, Herzog, Schäuble, Rau, auch Thierse, wehren sich gegen die hoffnungsvolle Rede von einer „Berliner Republik“, die jetzt anbreche. Was sollte sich schon groß ändern?
Dagegen kann Neu-Kanzler Schröder das polarisierende Wortsymbol gut brauchen. Regierungswechsel, Ortswechsel, Politikwechsel, in dieser Reihenfolge, das passt doch gut. Er glaube, dass der „Stil“ sich ändern werde. Und Berlin, eine große Stadt an der Nahtstelle zwischen Ost und West, werde eine der „spannendensten Metropolen der Welt“. Schröders Roadshow ist am Ziel angekommen, jetzt gehts aber los!
Berlin markiert gegenwärtig den Höhepunkt und die Erfüllung einer politischen Generation, die ungewöhnlich lange, ungewöhnlich erfolgreich war. Die rot-grünen ehemaligen Studentenpolitiker, die Jusofunktionäre und Spontis haben endlich die Kriegsgeneration vollständig abgelöst. Zwar reagieren sie immer noch allergisch auf Andersaltrige, aber kein Zweifel, sie regieren. Sie bilden jetzt, fünf, sechs Jahrgänge stark, das erste Berliner Hauptstadt-Establishment. Auch ihre internen Ausscheidungskämpfe, die manchem den Blick auf anderes verdeckten, sind entschieden. Unter den Kränen des neuen Berlin, vor schick aufgemotzter wilhelminischer Kulisse, im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium, Staatsratsgebäude und Reichstag, können alle spüren, dass die Welt der Westdeutschen, wohl vor ein paar Jahren schon, aufgehört hat zu existieren.
Dahinter tritt erstmals vielleicht noch tastend, die bisher weitgehend abgedrängte Nach-68er-Generation an die Öffentlichkeit. Deren Feuilletonname „Generation Berlin“ bringt recht gut zum Ausdruck, dass sie die ersten sind, deren gemeinsame politische Identität durch ihr allmähliches Wirksamwerden von Berlin aus geprägt wird.
2. In einem anderen Land. Ein halbes Jahrhundert wurde das demokratische Deutschland von Bonn aus regiert. Seit ein paar Wochen sitzen Parlament und Regierung nun in Berlin. Alles, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt über die Berliner Republik gesagt werden kann, hat deshalb notwendig die Form von Prognosen, Wünschen, Projektionen.
Es sei denn – auch dafür spräche manches – man datierte den Übergang zur Berliner Republik zurück auf den 3. Oktober 1990, den Tag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, nach dem das Land, jedenfalls für die Minderheit der Ostdeutschen, von Heute auf Morgen ein gänzlich anderes wurde. Die Mauer zwischen Drüben und Hüben, der Stacheldraht zwischen Diktatur und Freiheit, die Selbstschußanlagen zum Schutze der sozialistischen Menschwerdung sind abgebaut. Unsere westlich-demokratische Ordnung hat ihre dunkle Daueralternative verloren, die Front der Fundamentalkritik verläuft jetzt durch die Mitte unserer Gesellschaft. Der Ton könnte rauher werden, im Osten ist er es schon.
Wenn aber die Berliner Republik mit dem Wegzug aus Bonn und der Ankunft in Berlin, also mit dem Umzug beginnt, dann ist sie eher noch ein Land der Zukunft. Viel „Vielleicht“ findet sich etwa in Arnulf Barings Erwartungen; er schreibt in der Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: „Vielleicht werden wir sogar eine neue Verfassung brauchen.“ Der deutsche Föderalismus bedürfe einer Neuordnung. Zu erwägen sei außerdem die Direktwahl des Bundespräsidenten und die Einführung des Mehrheitswahlrechts. Vielleicht bedeute im übrigen die Rückkehr nach Berlin „die Heimkehr in die deutsche Geschichte“. Gleichzeitig dürfe die „Republik der Neuen Mitte“, die Gerhard Schröder von Berlin aus gestalten wolle, aber keinen Augenblick die Bonner Tugenden vergessen, die der „alten“ Bundesrepublik Respekt und Zustimmung in der Welt eingetragen haben: „die Bescheidenheit des Auftretens, den kooperativen Arbeitsstil, die Fähigkeit, anderen zuzuhören, ihre Interessen wahrzunehmen, behutsam am Konsens mitzuwirken.“
Über dem Beginn der Berliner Republik liege „Ironie“, schreibt Klaus Hartung im Kursbuch. Es gebe keine Ouvertüre, keine Inszenierungen, Symboliken, Gründungsakte. „Man trägt ihr keine Glückwünsche voraus, dafür vorab jede Menge Bedenken hinterher.“ Die Berliner Republik „fängt nicht an, sondern geht zur Tagesordnung über.“ Ob sie überhaupt einen Anfang habe, fragt Hartung, „oder hat sie schon angefangen? Ihr Anfang ist Negation. Dementis, Infragestellungen, Zweifel eilen ihr voraus. Ihr Begriff wird bestritten.“
Karl Rudolf Korte schreibt in der Zeitschrift Internationale Politik: „Der Wandel hat noch keine Formen, aber ein Richtungsetikett: die konstruktiv-gelassene Normalität einer unbefangenen Nation.“ Leise vollziehe sich der „Stilwechsel dosierter Erinnerungsarbeit bei gleichzeitiger lockerer Unbefangenheit“. In der Regierungserklärung nach seiner Wahl hatte Bundeskanzler Schröder gesagt: „Es ist das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über- oder unterlegen fühlen muß, die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber dabei nach vorne blickt.“
Sogar Jürgen Habermas, schreibt Micha Brumlik in der Kommune, sei – ohne den Begriff „Berliner Republik“ in einem anderen als einem schlicht geographischen Sinne zu verstehen – inzwischen willens, „in alledem so etwas wie ein Happy-End des katastrophalen Zwanzigsten Jahrhunderts zu erkennen.“ Damit sei aber auch die Rolle des klassischen bundesrepublikanischen Linksintellektuellen ausgespielt. Brumliks Hoffnung an das neue, „multikulturelle“ Deutschland: „Diese Gesellschaft wird ihre eigenen Geister hervorbringen.“
Was der Berliner Republik außer eigenen Geistern sonst noch fehlt, skizziert Josef Joffe in seiner Dankrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises, nachzulesen in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Zum Beispiel eine Debattierkultur, wie sie die kleinen Angelsachsen schon in der Schule lernten: „rigoros, regelhaft, respektvoll und witzig. Wir aber streiten uns am liebsten ad hominem oder hinterfragend, nach der Devise: Habe ich erst meinem Gegner die finstere Absicht oder das falsche Bewußtsein bescheinigt, habe ich ihm erst die Maske vom Gesicht gerissen, muß ich mich mit seinen Argumenten nicht mehr auseinandersetzen.“ Es fehle in Deutschland eine „Debatten-Arena“, es fehle „jenes Dutzend Zeitschriften, wo nicht der Pfarrer den schon Bekehrten predigt, sondern wo Ideen miteinander ein schweißtreibendes Match ausfechten.“
3. Young and hopeful? Was unteracheidet nun – in Berlin angekommen – die Generation der sozialdemokratischen Nach-68er von ihrer erfolgreichen Vorgängerformation? Vor allem anderen das Alter. Die Neuen wirken nicht so jugendlich, nicht so unkonventionell, fröhlich-rebellisch, draufgängerisch wie ihre Altvorderen.
Sie haben Marx und Marcuse gelesen, als man damit nichts mehr anfangen konnte, fanden Biermann und Rainer Kuntze gut und Honecker immer schon komisch. Wer heute mit unter 40 Jahren in der SPD als jung gilt, hatte bessere Chancen auf einen bezahlten Job in den wachsenden „Enkel“-Verwaltungen, Ministerien, in Fraktionsstäben, Staatskanzleien, Parteigeschäftsstellen und Abgeordnetenbüros als auf ein Mandat oder eine herausgehobene Parteifunktion.
Die Jungberliner misstrauen geschlossenen politischen Glaubenssystemen und der Sprunghaftigkeit missionarischer Überzeugungstäter. Opportunismus wird nicht gegeißelt, aber bemerkt, auch in den eigenen Reihen. Vielleicht sind sie etwas bescheidener und haben die Weisheit nicht mit so großen Löffeln gefressen – Faschismuskritik, Kapitalismuskritik, Imperialismuskritik – wie ihre jungsozialistischen Ahnen.
Sie haben weniger behauptet und wenig zurückzunehmen, haben zumeist Politik nicht als Lebensdrama erfahren und inszeniert. Der politische Gegner ist kein Feind, demokratischer Wechsel kein Sprung über die „Systemgrenze“, Parteiphrasen sind vielen von ihnen ein bisschen peinlich.
Für die junge Garde aus Ostdeutschland gilt manches anders. Aber auf eine unspektakuläre Weise passen im sich neu bildenden Netzwerk dieser Generation Ossis und Wessis recht gut zueinander. Im Stil gibt es keine Brüche.
Noch sind es wenige aus der Nach-68er-Generation, die öffentlich erkennbar für die SPD auftreten. Es wird Zeit.
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