Dem griechischen Philosophen Sokrates wird der Satz zugeschrieben: Wer zu klug ist, um sich in der Politik zu engagieren, wird dadurch bestraft, dass er von Leuten regiert wird, die dümmer sind als er selbst. Den Satz könnte auch Churchill gesagt haben oder Golda Meir oder Franz Müntefering. Er ist ein zeitloses Bonmot gegen die Verachtung der politischen Niederungen, gegen vornehme Demokratieabstinenz und gegen die Überheblichkeit, mit der manche Bürger gern denjenigen ihrer Mitbürger begegnen, die die Peinlichkeit begehen, sich zur Wahl zu stellen.
Der deutsche Philosoph und Bestsellerautor Richard David Precht hat jüngst in einem SPIEGEL-Essay wieder einen ganzen Sack der altbekannten Klischees aus dem antidemokratischen Kasperlerepertoire ausgekippt. Er spricht von Demokratie-Theater – andere sagten früher Schwatzbude. Eine pluralistische Gesellschaft, in der manche Interessen und Ideen von dieser Partei, andere Ideen und Interessen von jener Partei vertreten werden, scheint Precht als Konzept unbekannt zu sein. Er teilt fein säuberlich ein in das Volk, die Bürger und die Menschen auf der einen Seite und die Politiker, alle in einen Topf, auf der anderen. Schon klar, auf welcher Seite da die reine Demokratie zu Hause ist und auf welcher nicht.
Eigentlich wollte Precht nur dafür plädieren, dass bitte die Bundesversammlung den einen und nicht den anderen Kandidaten zum Bundespräsidenten wählen möge, stattdessen lässt er kein gutes Haar an der Demokratie des Grundgesetzes, wie sie bei uns seit inzwischen sechs Jahrzehnten schlecht und recht, aber eben doch tatsächlich gelebt wird. Von den drei möglichen Erfolgskriterien besser als früher, besser als anderswo und so gut wie das Ideal lässt er nur das letzte gelten. Aber was ist sein Ideal?
Dass all das, was er politisch nötig findet, von der gegenwärtigen Regierung im Bund nicht so recht vorangebracht wird, ist tragisch, aber kein Grund, daran zu zweifeln, dass es demokratisch zugeht – so wie das letzte Wahlergebnis eben war. Wenn mehr getan werden soll für Klimaschutz, für Europa, gegen Finanzspekulanten und gegen die Versteppung der Kommunen, dann muss Precht sich für eine alternative Regierungsmehrheit engagieren, entsprechend wählen, selbst auch andere davon überzeugen.
Auch wenn Bürgerinnen und Bürger in direkter Abstimmung Sachfragen entscheiden, gibt es Gewinner und Verlierer: sei es beim Volksentscheid gegen die sechsjährige Grundschule in Hamburg, sei es beim verschärften Rauchverbot in Bayern. Das ist das Leben, so sind die Spielregeln. Jedem wohl und keinem weh gehört nicht dazu.
Bei aller Begeisterung für das jeweils eigene Weltbild: Es verstecken sich in der wirklichen Welt keine objektiv richtigen, wahren Lösungen, die man nur finden, erkennen und umsetzen muss (wozu blöde Politiker eben bekanntermaßen zu blöd sind). Meist gibt es unterschiedliche Gemeinwohlkonzepte, konkurrierende Wahrheiten – und in der repräsentativen Demokratie immer wieder die Chance, einmal eingeschlagene Wege zu korrigieren. Das bedeutet Diskussion, Streit der Meinungen, Suche nach Konsens, um für das jetzt Machbare Mehrheiten zu gewinnen. Manche finden das abstoßend – Parteiengezänk, faule Kompromisse -, aber es ist nicht die bedauerliche Abirrung vom Ideal, sondern der gewollte verfassungsmäßige Normalfall. Philosophisch ausgedrückt: so etwas wie das permanente Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst, der Alltag der Demokratie.
Es ist ja wahr, die Demokratie hat es heute in Deutschland nicht leicht, hatte es nie leicht. Aber wie geistreich ist es, dafür zuerst einmal diejenigen verächtlich zu machen, die als aktive Bürger, als Gemeindevertreter, Abgeordnete in Regierungs- und Oppositionsfraktionen, Bürgermeister, Minister, Parteitagsdelegierte die Institutionen dieses demokratischen Gemeinwesens überhaupt erst einmal ausfüllen? Und nicht jene, die sich ignorant, faul und teilnahmslos darüber erheben?
60 Prozent der Bundesbürger geben in Umfragen an, sie erführen zu wenig über die Arbeit ihrer gewählten Vertreter, trotz Print- und Rundfunkvielfalt, trotz Internet-Overkill. Als Abgeordneter wird man in den Wahlkreiswochen ganz freundlich von Mitbürgern auf der Straße gefragt: Sie hier, haben Sie Urlaub? Was außer dem Sitzen im Berliner Plenarsaal eigentlich die Abgeordnetenarbeit ausmacht, ist den wenigsten bekannt. Es steht auch kaum je in der Zeitung. Besuche in Firmen, Behörden, Instituten und Kasernen, bei Vereinen und Verbänden, die Bürgersprechstunde, Diskussionsveranstaltungen mit Berufsschülern und IG-Metall-Senioren, mit Betriebsräten und Ortsvereinen, Gespräche mit Betroffenen, Experten und Journalisten – das ist das unspektakuläre Pensum des politischen Bodenpersonals überall in der Republik. Reden, reden, reden? Ja, genau. Und zuhören. Von morgens bis abends. Nur dann bekommen politische Projekte Flügel, erhalten Gesetze Legitimität, wenn hier die Rückkopplung gelingt, sich hier Meinungen und Mehrheiten bilden – immer in Konkurrenz zu anderen, die auf die gleiche Weise für andere Ziele unterwegs sind. Das hört sich mühsam an, es ist mühsam. Und es ist schwer zu ertragen, wenn dann antidemokratische Schmähkritik das Interesse der Mitbürger am eigenen Mittun zerstört.
1992 lautete das Wort des Jahres: Politikverdrossenheit. 1964 schrieb der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel: Das kritikbedürftigste Moment des Bonner Parlamentarismus scheint mir die landläufige Kritik zu sein, die an ihm geübt wird. Sie ist reaktionär und schizophren. Sie sehnt sich heimlich nach einer starken Regierung und bekennt sich öffentlich zu der Herrschaft eines allmächtigen Parlaments. Sie beschimpft den Abgeordneten, wenn es zu einer Regierungskrise kommt, und verhöhnt ihn, wenn er getreulich die Fraktionsparole verfolgt. Genau so eine reaktionäre Haltung vertrat der spätere Literaturnobelpreisträger Thomas Mann in seinenBetrachtungen eines Unpolitischen – 1918 vor Beginn der Weimarer Republik und vor Verfolgung und Ermordung von Demokraten in der Nazi-Diktatur veröffentlicht (er selbst musste ins Exil gehen) -, wo er den Typus Politiker beschreibt als ein niedriges und korruptes Wesen, das in geistiger Sphäre eine Rolle zu spielen keineswegs geschaffen ist.
Der Philosoph Precht unterstellt dem politischen Führungspersonalunserer Tage, ihm gehe es um ein paar letzte Privilegien, ein bisschen Machtgefühl, ein paar Versorgungsansprüche. Ist es das wirklich, im Ernst? Man wüsste zu gern, mit wem Precht da Umgang hatte.
Noch die gröbsten Gemeinheiten wie die antirepublikanische Häme anlässlich eines Illustriertenfotos, das 1919 Reichspräsident Friedrich Ebert und Wehrminister Gustav Noske unvorteilhaft im Badekostüm am Travemünder Strand zeigt, schimmern bis heute durch: Precht findet aus Unterhaltungssicht, wie er schreibt, die gegenwärtigen politischen Darsteller wenig attraktiv. Das könnte uns egal sein, solange unsere nichtsnutzige Regierung jedenfalls keine Weltkriege anzettelt, Mitbürger verfolgt und Deutschland ins Elend stürzt. Aber die große Pose – die weder Merkel noch Steinmeier und nicht einmal Westerwelle wirklich liegt – wird offenbar trotzdem sehnsüchtig vermisst.
Im Moment legen einige Medien dem Verdrossenheitspopulisten Thilo Sarrazin nahe, eine eigene Antiparteien-Partei zu gründen. Das könnte er tun. Angeblich stehen schon 18 Prozent Wähler bereit. Aber wie schnell man dann auch wieder allein ist, wenn alle Programm-, Personal- und Geschäftsordnungsschlachten geschlagen sind, davon könnten Leute wie Markus Wegner, Ronald Schill und Gabriele Pauli tränenreiche Geschichten erzählen. Beruhigende Geschichten.
Dennoch: Alle Umfragen zeigen, dass es im Verhältnis der Deutschen zu ihrer staatlichen Ordnung ein Problem gibt. Etwa die Hälfte findet, dass unsere Demokratie nicht richtig funktioniert. Dabei tröstet es wenig, dass die Zufriedenheitsquote in Frankreich, Großbritannien und Italien ganz ähnlich trostlos ist. Aber warum lieben es die Bürgerinnen und Bürger in allen großen Demokratien, ob parlamentarisch oder präsidentiell verfasst, so sehr, die von ihnen selbst gewählten Repräsentanten zu hassen? Den einzelnen Vertreter, den sie kennen, finden sie meist ganz in Ordnung, aber die Politiker als solche sind für viele ein Universalübel. Seltsam.
Nach einer Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006 stimmte jeder vierte Befragte bundesweit dem Satz zu Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert. Hinter dem Bekenntnis Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert versammelten sich 15 Prozent. Und ungeheuerliche 18 Prozent fanden es richtig, wenn gesagt wird Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß. Auch heute noch! Das sind ganz ähnliche Befunde wie in der berühmten Sinus-Studie aus dem Jahr 1981. Nichts ist seitdem besser geworden.
Mit dem Siegeszug des ökonomistischen Denkens, mit Individualisierung, Globalisierung, medialer Allerweltsvernetzung, mit dem Wegfall des alten Systemkonflikts zwischen westlicher Freiheit und osteuropäischer Diktatur ist die Basis der Demokratie in unserem Land dramatisch zusammengeschmolzen. Die Zahl der Parteimitglieder geht scheinbar unaufhaltsam zurück, Parteilichkeit gilt immer mehr als spießig, Parteienverachtung gehört auch in den sogenannten besseren Kreisen, auch bei Journalisten und Intellektuellen, inzwischen fast zum guten Ton. Bei der Wahl 2009 hielten so unterschiedliche Geistesgrößen wie Gabor Steingart und Thomas Brussig den Aufruf zum demonstrativen Nichtwählen für absolut cool.
Zwar ist die Wahlbeteiligung in Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, immer noch relativ hoch, aber sie geht zurück, und gerade in Ostdeutschland wirkt das fatal delegitimierend. Ein ehemaliges Mitglied der Bundesregierung aus den neuen Bundesländern bringt es auf den verzweifelt-besorgten Satz: In Ostdeutschland ist die Systemfrage offen.
Das wäre wahrlich eine große gesellschaftliche Debatte wert mit dem Ziel, dass sich etwas zum Besseren ändert. Was man wahrnimmt, ist aber das alte dröhnende deutsche Die Parteien sind unser Unglück -Lamento. Und dahinter droht das historisch düstere Wir können auch anders!.
Vieles könnte, manches müsste sich in republikanischem Sinne ändern. In den Schulen könnte ein realistisches Bild des tatsächlichen Funktionierens lebendiger Demokratien vermittelt werden. Hier, nicht erst in den ruhig am See gelegenen evangelischen Akademien, beginnt jede politische Bildung: Rede und Gegenrede, Streit und Kompromiss, Freiheit und Organisation – unsere Verfassungsordnung verlangt das Aushalten von Widersprüchen, das Grundgesetz will die Balance unterschiedlicher Prinzipien. Und Mitdiskutieren, Mitentscheiden macht Spaß, auch wenn ich mich am Ende nicht zu hundert Prozent durchsetze! Die Schule, eine Institution unseres demokratischen Staates, müsste ermutigen zur angewandten Demokratie, zur Teilhabe in Schülervertretungen, Schülerzeitungen, Jugendorganisationen, Kirchengemeinden, Verbänden, Parteien. Denn nur durch eines sind unsere demokratischen Grundrechte wirklich zu schützen: durch Gebrauch.
Ermutigen eigentlich die Medien zum demokratischen Engagement? Ist das eine unzulässige Frage?
Schließlich müsste im politischen Betrieb selbst die Sensibilität wachsen für eine Sprache und für Formen, die einladen, nicht abschotten. Es gibt einen Polit- Jargon, der furchtbar ist, tot, abtörnend: Generalsekretärs-Sound. Weg damit! Gesine Schwan, die zweimalige Bundespräsidentschaftskandidatin, wollte ihr Amt nutzen als Demokratievermittlerin, sie wollte die Bedingungen politischen Handelns bei allen ihren öffentlichen Auftritten immer mitthematisieren. Joachim Gauck wollte Demokratielehrer sein. Christian Wulff könnte daran anknüpfen. Horst Köhler hat sein Amt leider nie so verstanden.
Und vielleicht braucht dieses Land wirklich noch ein paar neuePolitiker, zusätzlich zu denjenigen, die im Moment, weil sie gewählt sind, die Verantwortung tragen. Jeder darf! Es gibt kein Examen, keinen speziellen Lehrgang, keine Aufnahmegebühr. Man muss allerdings bereit sein, in den anderen Mitbürgern, Parteimitgliedern, Abgeordneten jeweils Gleichberechtigte zu sehen. Demokratie ist nicht die Herrschaft der Größten, Schönsten und Besten, sondern des mittleren Maßes – normale Menschen genügen, egal worin ihre Normalität jeweils besteht. Franz Müntefering hat Hauptschulabschluss, eine Lehre gemacht und dann die Universität des Lebens besucht, am Ende war er Vizekanzler und hatte das schönste Amt neben Papst inne, SPD-Vorsitzender. Das geht.
Richard David Precht zitiert in seinem Essay, offenbar zustimmend, den britischen Philosophen John Stuart Mill, nach dem eine Demokratie auf der obersten Führungsebene ausgewiesene und unbestechliche Experten brauche: Nur wenn die Besten der Besten regierten, sei vertretbar, dass nicht das Volk selbst das Zepter schwinge. Eine solche verfassungsmäßige Ordnung könnte man schaffen, es wäre allerdings keine freiheitliche Demokratie. Die KP Chinas würde sicher behaupten, dass bei ihr Mills Forderung weitgehend erfüllt sei.
Bei uns ist sie das nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist Physikerin. Sie macht aus Prechts (und meiner) Sicht mit ihrer Koalition eine schlechte Politik. Das kann man ändern – aber gewiss nicht dadurch, dass künftig zum Beispiel nur noch Juristen (oder Bestsellerphilosophen) regieren dürften.
Hans-Peter Bartels, 49, ist Sprecher der Arbeitsgruppe Demokratie in der SPD-Bundestagsfraktion.