Weil sie heute noch jedermanns Liebling sind, werden den Parteipiraten in der deutschen Öffentlichkeit die freundlichsten Eigenschaften zugeschrieben: Sie seien die wahren Liberalen (Bürgerbeteiligung!), die besseren Sozialdemokraten (bedingungsloses Grundeinkommen!), grüner als die Grünen (kostenloser Nahverkehr!) – und überhaupt die modernste Partei des Universums (Internet!). Was man ihnen bisher kaum nachgesagt hat, weil es nicht so nett rüberkommt, ist, dass sie eine marxistische Ideologie vertreten. Vielleicht wissen sie es selbst gar nicht (googeln unter historischer und dialektischer Materialismus!), aber es ist so: In der Piratenwelt soll Technik die Entwicklung des sozialen und politischen Zusammenlebens der Menschen bestimmen. Die technisch-ökonomische Basis determiniert den gesamten gesellschaftlichen Ãœberbau. So steht es bei Marx. Und Kommunisten von Lenin bis Honecker haben darauf mit aller Macht ihre rein sachliche, menschenfreundliche Verwaltungsarbeit (Achtung: Ironie!) im Sinne dieser wissenschaftlichen Gesetze gegründet – auch gegen den Widerstand der Ewiggestrigen, die unter Freiheit etwas anderes verstanden als Einsicht in die Notwendigkeit.
Nun soll also das ständige Online-Sein, das Ideal eines Chatrooms, der alle mit allen verbindet, die Schwarmintelligenz, die stets „beste“ Lösungen für politische Probleme findet, unsere Demokratie auf eine höhere Stufe heben. Das ist der ideologische Anspruch der Piraten. Wir werden also wieder Ideologiedebatten zu führen haben. Hier ein Anfang:
Erstens, die demokratische Ordnung der Freiheit setzt auf Mehrheitsentscheidung und Legitimation durch Verfahren (Luhmann). Das Gemeinwohl ist keine objektive wissenschaftliche Größe, sondern eine regulative Idee (Habermas). Streit und Kompromiss, schrittweises Vorgehen und politisches Stückwerk (Popper) sprechen nicht für das Versagen von Politik, sondern sind der Alltag einer erfolgreichen Demokratie.
Zweitens: Es gibt im Volk unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Weltanschauungen, Erfahrungen und Meinungen. Diese finden ihren Ausdruck in unterschiedlichen Vereinigungen, Parteien und auch Medien, die miteinander in aller Öffentlichkeit friedlich konkurrieren. Diese pluralistische Ordnung finden wir überwiegend besser als Bürgerkrieg, Obrigkeitsstaat oder Chinas „harmonische Gesellschaft“. Zur Demokratie gehören immer mehrere – möglichst stabile – Parteien, insofern: Herzlich willkommen, ihr Piraten und ihr Freien Wähler! Tschüss, Stattpartei und Schill!
Drittens: Der politische Streit, der in Deutschland stellvertretend für 80 Millionen Menschen von den jeweils freiwillig Aktiven und den in allgemeinen Wahlen bestimmten Abgeordneten ausgetragen wird, hat Regeln, erfordert Ernsthaftigkeit und Rücksicht. Wenn Sexismus- und Rassismusvokabular in den internen Debatten zum Ton gehören, wenn der „Shitstorm“ anonymer Rechthaber als normale Äußerungsform im elektronischen Politikverkehr gilt, wenn die Parlamentssprache um peinlichsten Nerdmacho-Jargon erweitert wird, dann fällt es schwer, in solchen unkonventionellen Beiträgen zur konventionellen Politik einen Gewinn zu sehen. Das erkennen die Piraten inzwischen offenbar selbst. Aber die Pose eines naiven Antiparlamentarismus gilt dort immer noch als chic: Wenn „alle Menschen“ eines Tages „liquid democracy“ nutzten, würden Parlamente „überflüssig“, erklärte die Vorzeigepiratin Marina Weisband unlängst. Ãœber das weitergehende „Absterben des Staates“ wäre übrigens bei Marx wieder einiges nachzulesen.
Viertens: Für Folgen und Nebenfolgen seines freien Tuns und Unterlassens trägt jeder eine eigene Verantwortung (Hans Jonas). Das gilt zum Beispiel für den Angriff der Internetindustrie auf Urheberrechte (Gründungsmythos der schwedischen Piraten). Wie jede andere Partei sind auch die Piraten nicht gut für alle Wählerinnen und Wähler, keine überparteiliche „Metapartei“, sondern für die einen vielleicht von Vorteil, für die anderen von Nachteil. Spätestens wenn ihnen Verantwortung in Parlamenten zuwächst, wird man das sehen. Ganz konventionell.