Herr Bartels, EU-Kommissionspräsident Juncker hat sich angesichts der aggressiven Außenpolitik Russlands für eine europäische Armee stark gemacht. Ist das die richtige Reaktion auf diese Herausforderung?
Jetzt scheint die Zeit reif für diese Idee zu sein, die die SPD schon lange verfolgt. Alle 28 EU-Mitgliedstaaten haben seit dem Ende der Blockkonfrontation ihre Streitkräfte massiv reduziert, das Geld ist knapp. Wir könnten unsere militärischen Fähigkeiten in Europa wesentlich stärken, wenn wir uns besser abstimmen würden. Nicht jede nationale Armee muss alles allein können. Entscheidend ist, dass wir Europäer gemeinsam mehr können. Ist es nicht unsinnig, militärische Doppelstrukturen zu denen der Nato aufzubauen? Das ist der alte amerikanische Einwand. Aber es geht ja gerade darum, militärische Parallelstrukturen innerhalb der 28 EU-Armeen abzubauen und unter ein gemeinsames Kommando zu stellen. 22 von 28 EU-Nationen sind Nato-Mitglied. Wenn die Nato militärisch effektiver werden will, muss vor allem ihr europäischer Teil effektiver werden.
Wann soll die europäische Armee stehen?
In 20 Jahren können wir dieses Ziel erreichen. Schon jetzt sollten wir allerdings jede Entscheidung über Struktur und Ausrüstung der Bundeswehr daran ausrichten, dass sie dazu beiträgt.
Die aggressive russische Politik verunsichert Polen und Balten. Hat die Nato noch die Fähigkeit zur Bündnisverteidigung? Die Bundeswehr, Stand heute?
Eingeschränkt. Die Nato insgesamt, einschließlich USA: sicher. Aber richtig ist: Mit der Annexion der Krim durch Russland sind wir in eine neue Epoche eingetreten. Wir wissen noch nicht wirklich, wie diese Ära aussehen wird und was als Nächstes kommt.
Die Bundeswehr ist also nicht für die neuen Herausforderungen vorbereitet?
Die Bundeswehr wurde mehrfach reformiert, um vor allem für die Out-ofarea-Einsätze gerüstet zu sein – und um Geld zu sparen. Als Präsenzarmee in der Mitte Europas sind jedoch Streitkräfte, die nur zu 70 Prozent mit militärischem Großgerät ausgestattet sind, nicht so eindrucksvoll, wie unsere Partner sich das wünschen.
Das heißt, zurück zur Groß- und Panzerarmee des Kalten Krieges?
Wir brauchen nicht mehr Soldaten. 1,5 Millionen Soldaten in Europa, davon 185000 deutsche, reichen für jeden denkbaren Zweck. Es geht darum, ob sie effektiv Zusammenwirken und ein Ganzes bilden. Um eine drohende Aggression abzuschrecken, braucht man nicht einzelne einsatzfähige Verbände, sondern alle. Die Konsequenz muss also für uns sein: keine hohlen Strukturen mehr, sondern Vollausstattung der Bundeswehr! Nicht 70, sondern 100 Prozent!
Das kostet aber. Aus Ihrer Partei gab es Kritik, als Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) einen höheren Wehretat angkündigte. Was gilt jetzt?
Wolfgang Schäuble ist wie die ganze Bundesregierung daran interessiert, dass Deutschland in Europa einen ernst zu nehmenden Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leistet. Ich begrüße es, dass laut den nun vorliegenden Haushaltseckwerten dem Verteidigungshaushalt 2016 nicht ausgegebenes Geld weiter zur Verfügung steht. Von 2017 an brauchen wir definitiv einen höheren Wehretat. Denn alle Spareffekte der jüngsten Reform sind bis dahin erzielt. Die Alternative wäre, die Bundeswehr weiter zu verkleinern. Das fände ich absurd.
Die Nato will ihre Schnelle Eingreiftruppe auf 30000 Mann aufstocken. Im Moment ist eine Speerspitze“ im Aufbau. Reicht das nicht?
Die Aufstellung der Nato-„Speerspitze“ ist eine hoch symbolische Aktion. Dieser Verband kann zum Beispiel den baltischen Staaten zeigen: Bei einer drohenden Aggression stehen die anderen sehr früh sichtbar an eurer Seite! Mit 5000 Soldaten verteidigt man aber keine Staaten.
Für die letzte Bundeswehr-Reform hat Thomas de Maiziere die Leitlinie ,Breite vor Tiefe“ ausgegeben, – wir müssen alles können, wenn auch nicht alles perfekt. Kann das weiter gelten?
Nein. Das war von Anfang an der falsche Ansatz. Es ist deshalb gut, dass wir eine neue Verteidigungsministerin haben, die nicht an die Dogmen ihres Vorgängers gebunden ist. Wir haben noch keine europäische Armee. Aber die Bundeswehr ist seit Langem nur noch in multinationalen Einsätzen unterwegs. Deshalb brauchen wir gemeinsame Strukturen, gemeinsamen Übungsbetrieb und letztlich gemeinsame Ausrüstung. Da wir alle nicht radikal mehr Geld zur Verfügung haben werden, ist Europäisierung die einzige Lösung. Auch die Amerikaner haben übrigens inzwischen ein Interesse an einem starken europäischen Pfeiler signalisiert.
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