Beitrag von Hans-Peter Bartels, MdB in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 18. Januar 2000
Um ein regierungsfähiges bürgerlich-demokratisches Mehrheitslager zu bilden, entstand nach der Nazi-Zeit und den Labilitätserfahrungen der Weimarer Republik die „Union“: die Sammlungspartei für christlich-soziale, liberale und nationalkonservative Demokraten. Sie ersetzte vier oder fünf der Weimarer Mitte-rechts-Parteien und sog verschiedene Nachkriegs-Wieder- und Neugründungen schnell auf. Seit 1953 vereinigte die Union bei zwölf Bundestagswahlen jeweils zwischen 40 und 50 Prozent der Wählerstimmen auf sich. Die Tiefstwerte liegen an den historischen Polen der Parteigeschichte: 31 Prozent 1949, 35 Prozent 1998. Die SPD, als klassische Sammlungspartei der Linken zum Vergleich, kam nur fünf Mal über 40 Prozent, nur zwei Mal wurde sie stärker als die Union. In ihrer 50-jährigen Geschichte sind die vereinigten Marschsäulen des bürgerlichen Lagers zu einer Front, zu einer kraftvollen Volkspartei verschmolzen, neben der nur eine kleine FDP noch Platz fand.
Bürgerliche Hegemonialparteien wie diese gibt es in anderen Ländern kaum. Abgesehen von den USA und Großbritannien, wo das Mehrheitswahlrecht zur Konzentration auf den beiden Seiten des Parteiensystems zwingt, gab es nur in Italien Vergleichbares: die Democrazia Cristiana. Sie zerfiel, als Verstrickungen von Politik, Mafia, Justiz und Geheimdiensten offenbar wurden. Italien ist der Extremfall. Deutschlands Christlich Demokratische Union wird im Sumpf ihrer eigenen finanziellen Basis nicht untergehen, sie wird sich nicht auflösen, nicht umbenennen und nicht spalten. Aber sie ist dabei, etwas zu verspielen, was ihre Generalsekretäre immer gern „strukturelle Mehrheitsfähigkeit“ genannt haben. Es kann sein, dass bald schon in einem anderen Sinne als von der jetzigen Führung intendiert, die CDU Helmut Kohls aufhören wird zu existieren.
Denn die Bedingungen für ihr dauerhaftes Quasimonopol in der rechten Mitte sind inzwischen fast vollständig entfallen: Die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland scheint auf die Einheit des bürgerlichen Lagers nach einem halben Jahrhundert Demokratie weit weniger angewiesen zu sein als am Anfang. Zudem sind mit der Blockkonfrontation und der deutschen Frage wichtige Bindemittel von Union und Unionswählerschaft verschwunden; die Christdemokratie, nach eigenem Verständnis eine unideologische Partei, brauchte immer die Ideologie der anderen.
Seit der Bundestagswahl 1983 geht sowohl der Anteil der Union als auch der Konzentrationsgrad der Stimmen insgesamt zurück. Von 48,8 Prozent (1983) sinkt das Unionsergebnis kontinuierlich über 44,3 (1987), 43,8 (1990), 41,5 (1994) auf zuletzt 35,1 Prozent. Das Drei-Parteien-System wurde 1983 um die Grünen und 1990 um die PDS erweitert. Die Bindekraft der CDU, die mit der Individualisierung, der Verbreiterung des Parteienspektrums und dem Hinzutreten der fluktuierenden ostdeutschen Wählerschaft ohnehin schwächer geworden ist, wird jetzt durch die Glaubwürdigkeitskatastrophe noch geringer.
So entsteht Raum. In Hamburg war in einem ähnlichen Fall eine neugegründete „Statt-Partei“ in die Bresche gesprungen (und später wieder verschwunden). Sich seriös gebende Rechtsextremisten könnten die Schwäche der CDU ausnutzen. Die FDP wird profitieren. Auch Schröders Neue-Mitte-SPD dürfte durch christdemokratische Wechselwähler und enttäuschte Wahlabstinenz des Unionslagers gestärkt werden. Und eine alte Idee aus den siebziger Jahren wird früher oder später zu neuen Ehren kommen: die Ausdehnung der noch intakten CSU über die ganze Republik – als Konkurrenz und Koalitionspartner der CDU. Die CSU, stets eigenständig, ist die jederzeit mobilisierbare Machtreserve des bürgerlichen Einheitsprojekts „Union“. Schon der Machtverlust 1969 und das Scheitern des schnellen Wiedergewinns der Regierungsmehrheit 1972 und 1976 hatten Bestrebungen ausgelöst, die CSU als „vierte Partei“ bundesweit aufwachsen und antreten zu lassen. Ein Ergebnis dieser Debatte war die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß 1980.
Nach Stimmen ist die CSU heute – obwohl nur in Bayern wählbar – die drittstärkste Partei, hinter SPD und CDU, vor Grünen, FDP und PDS. Mit ihren absoluten Mehrheiten im zweitgrößten Bundesland trägt sie im vereinigten Deutschland stabil etwa sieben Prozentpunkte zum bundesweiten Unionsergebnis bei (CDU allein, 1998: 28 Prozent). Je länger die CDU-Krise währt, je tiefer diese Partei bei Wahlen und Umfragen stürzt, je weiter sich das bürgerliche Lager von der Regierungsoption entfernt, desto attraktiver wird die Neuauflage jener Überlegungen aus der ersten Oppositionszeit der Union: getrennt marschieren, vereint schlagen.