Rede von Hans-Peter Bartels vor dem Deutschen Bundestag am 28. Januar 2000

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Holetschek, mit Ihrem Antrag weisen Sie auf ein Politikdefizit hin, das es tatsächlich gibt. Aber dieses Defizit gibt es nicht erst ab dem Zeitpunkt, seitdem die neue Bundesregierung im Amt ist. Dieses Defizit besteht vielmehr, weil in den Jahren vor Amtsantritt der jetzigen Bundesregierung, in den zwar nicht 16, aber zehn Jahren, seitdem über dieses Thema diskutiert wird, der größte Bremser auf diesem Gebiet der Sektenpolitik nicht die sozialdemokratische Fraktion, sondern die christlich-liberale Bundesregierung gewesen ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe damals als Sektenbeauftragter der schleswig- holsteinischen Landesregierung meine Erfahrungen mit dieser Politik des hinhaltenden Desinteresses gemacht. Die Länder hätten sich zum Beispiel eine offensive, aktive Aufklärungs- und Informationspolitik seitens des Bundes gewünscht. Kapazitäten – auch fachlich hervorragend qualifizierte – sind dafür im Bundesverwaltungsamt vorhanden. Der Bund hat daraus wenig, zu wenig gemacht. Deshalb ist es richtig, darüber nachzudenken, wie man das ändern kann. Das tun wir.

Nebenbei bemerkt: Die Bestellung eines Bundesbeauftragten für Sekten – Besoldungsgruppe B 6 – durch die damalige Ministerin Nolte war wirklich ein schlechter Witz. Vielleicht ist es noch nicht einmal jedem bekannt geworden, dass es eine solche Institution für einige Monate gab. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Öffentlich ist dieser Bundesbeauftragte meines Wissens niemals in Erscheinung getreten.

Desinteresse der alten Regierung bestand auch bei folgendem Thema – Sie haben es angesprochen, wenn auch mit einem anderen Zungenschlag –: Alle Länder hatten sich 1997 auf den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Verbraucherschutzes auf dem Markt der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe geeinigt. Er wurde einstimmig im Bundesrat beschlossen, und zwar von Schleswig-Holstein und Hamburg bis Sachsen und Bayern. Die alte Bundesregierung aber war skeptisch. Dies ist in der Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Gesetzentwurf nachzulesen. Im Bundestag, wo Sie, wo damals CDU/CSU und F.D.P., die Mehrheit hatten, zog sich die Sache so lange hin, bis die Legislaturperiode abgelaufen und der Gesetzentwurf der Diskontinuität anheim gefallen war.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)

Jetzt machen Sie dicke Backen und fordern genau dieses Gesetz. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall bei der SPD und dem BÃœNDNIS 90/ DIE GRÃœNEN)

In der Sache aber sind wir, so glaube ich, nicht so weit auseinander. Das haben sowohl die diversen Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zum Thema Scientology-Organisation gezeigt als auch der Abschlussbericht der Enquete-Kommission.

Wir müssen und werden jetzt überlegen, welche Handlungsempfehlungen wir wie umsetzen können. So steht es in unserem Antrag. Die kabarettreife Verlesung dieses Antrags sei Ihnen gestattet; aber natürlich werden wir gemeinsam darüber beraten und vermutlich auch in dem übereinstimmen, was wir dann tun werden. Im Übrigen glaube ich nicht, dass all das, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, in Ihrer eigenen Fraktion mehrheitsfähig wäre.

(Beifall der Abg. Renate Rennebach [SPD] – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Warum vermuten Sie das?)

– Diskutieren Sie dann einmal mit Ihren Rechtspolitikern die Frage, ob sich juristische Personen – nicht natürliche, sondern juristische Personen; so steht es bei Ihnen – strafbar machen können sollen. So etwas schreibt sich leicht in solche Anträge hinein. Es wäre vielleicht im Zusammenhang mit ganz anderen Fragestellungen ein interessantes Thema; mein Thema ist es aber nicht.

Ich möchte Ihnen sagen, welche meine Prioritäten sind, wenn wir an die Umsetzung herangehen:

Erstens. Mir ist die Stärkung der Information und Aufklärung wichtig. Dabei könnte das Sektenreferat im Bundesverwaltungsamt eine wichtige Rolle übernehmen. Aufklärung, gemeinsam von Bund, Ländern und freien Trägern geleistet, ist das A und O in einer freien pluralistischen Gesellschaft.

Zweitens brauchen wir endlich das Verbraucherschutzgesetz für den Sekten-, Esoterik- und grauen Psychomarkt.

Lassen Sie mich einige Bemerkungen zum Gegenstandsbereich unserer Diskussion machen. Sie haben es richtigerweise auf den Bereich Esoterik erweitert, in dem es auch Phänome gibt, die wir regeln müssen. Zunächst möchte ich aber auf den Sektenbegriff eingehen.

Was sind eigentlich Sekten? Auf dem Endbericht der Enquete-Kommission findet man das Wort gar nicht mehr. Keine Gruppe nennt sich selbst so; die Gruppen nennen sich Zentrum, Bewegung, Kirche, Bund, Orden, Verein – was immer sie wollen. „Sekte“ ist ein Begriff, der von außen an bestimmte Gruppen herangetragen wird. Besser gesagt, es werden zwei Sektenbegriffe verwendet, die in der Vergangenheit auch für Verwirrung gesorgt haben. Vielleicht kann ich ein bisschen zur Klarheit beitragen.

Der eine, der klassische Sektenbegriff ist der theologische. Er bezeichnet eine Abspaltung von der christlichen Kirche, eine häretische Gemeinschaft, die auf eigenen Offenbarungs- und Wahrheitsquellen beruht, also neben der Bibel und der christlichen Überlieferung ein eigenes Buch – beispielsweise das Buch Mormon – oder einen eigenen Propheten hat. Solche Gruppen sind zum Beispiel die Quäker, die in unserem Sinne überhaupt nicht problematisch sind; einer von ihnen ist der Friedensnobelpreisträger von 1949. Darum geht es uns nicht, wenn wir von Sekten sprechen.

Wir verwenden den neueren kulturellen, umgangssprachlichen Sektenbegriff, unter dem im Übrigen jeder das versteht, was auch wir darunter verstehen. Das ist aber nicht die christliche, kirchliche Definition. Dieser kulturelle Sektenbegriff bezieht sich auf die konfrontative Stellung der Gruppe im Verhältnis zur Gesellschaft. Aus dieser Perspektive sind Merkmale einer Sekte die Tatsachen, dass die Gruppe sich von ihrer Umgebung abkapselt, dass die Mitglieder der Gruppe von ihrem sozialen Umfeld isoliert werden und dass das Heilsversprechen der Gruppe mit einem Absolutheitsanspruch verbunden wird. Nicht das Heilsversprechen ist das Problem – das beinhalten jeder Glaube und auch manche Ideologie –, sondern der Absolutheitsanspruch. Elitebewusstsein, Machtanspruch, Gruppendruck, Bewusstseinskontrolle, Verschwörungsdenken, Verfolgungswahn, Psychoterror gegen Abtrünnige und Kritiker sind weitere Merkmale einer Sekte, wie wir sie verstehen. Das hat nicht mit Religion und Weltanschauung zu tun, sondern damit, wie eine Gruppe von Menschen sich gegenüber ihren Mitgliedern und gegenüber anderen verhält.

Man sollte also nicht versuchen, im Sinne von Sprachpolitik einen neuen Sektenbegriff zu etablieren. Das bringt wenig. Wenn also auf dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen“ steht, dann ist das, mit Verlaub, Tüdelkram.

(Beifall bei der SPD)

Die Motive, sich in solchen Gruppen zu organisieren – ich meine jetzt die Motive, die die Menschen selbst haben und die die Gruppen offiziell nennen –, sind auch nicht allein religiös. Es ist ein Bündel von Motiven, in dem einzelne klar abgegrenzte Motive vorzufinden sind. Es gibt therapeutische Motive. Das hat mit Religion nichts zu tun. Ich denke etwa an den Bruno- Gröning-Freundeskreis, eine Heilungsbewegung, an VPM oder an Metharia, eine UFO-Sekte, die heilt. Dann gibt es politische Motive; hier sind die EAP und die Scientology-Organisation zu nennen. Letztere ist aus meiner Sicht eine politisch und nicht religiös motivierte Organisation. Sie ist auch nicht wirtschaftlich motiviert; das Geld dient der Machtausweitung. Es gibt aber auch wirtschaftliche und religiöse Gründe.

Ein Beispiel dafür mag die Maharishi-Bewegung des Gurus Maharishi Mahesh Yogi sein, die alle vier Bereiche abdeckt: die Maharishi-Ayurveda-Gesundheitszentren für den Bereich Therapie, die Naturgesetz- Partei für den Bereich Politik, die Samhita GmbH und die TM-Center fürs Ökonomische und der Guru Maharishi selbst für das Religiöse. Es ist also ein Bündel von Motiven. Die Religion kann eines sein. Unser Sektenbegriff bezieht sich nicht auf das Religiöse.

Nicht von allen Sekten gehen konkret Gefahren aus. In Deutschland können von etwa 40 bis 50 Gruppen Gefahren ausgehen, von denen Länder und Bund wissen und vor denen Sie warnen oder warnen können.

Was für Gefahren können von diesen Gruppen ausgehen? Es müssen Gefahren für Grundrechtsgüter sein, wenn der Staat das Recht haben soll zu warnen. Diese Grundrechtsgüter sind Leben und Gesundheit, physisch und psysisch, das Eigentum, Ehe und Familie, um einige zu nennen. Wenn diese gefährdet sind, dann darf und dann muss der Staat handeln im Sinne von warnen, also nicht in dem Sinne, die Gefahr durch Verbot auszuschließen, sondern im Sinne von warnen. Wenn es um Straftaten geht, muss er mit all dem einschreiten, was ihm zur Verfügung steht.

Es geht also nicht darum, ob eine Ideologie seltsam ist oder ob eine Religion sonderbar ist, sondern es geht darum, den Einzelnen stark zu machen gegen radikal vereinnahmende Kollektive. Es geht also – das ist die Hauptaufgabe des Staates in diesem Bereich – um Aufklärung und Verbraucherschutz. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten!

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)

 

PDF-Dokumente

BT-Plenarprotokoll 28.01.2000 – Ausschnitt Bartels – Sekten

BT-Plenarprotokoll 28.01.2000