Warum Schröders SPD ein neues Grundsatzprogramm braucht

Beitrag von Hans-Peter Bartels, MdB in der Tageszeitung „Welt“ vom 20. August 1999

Es hatte das „Bremer Programm“ der SPD werden sollen, aber wegen der revolutionären Ereignisse in der DDR verlegte der Vorstand den Parteitag kurzfristig nach Berlin: am 20. Dezember 1989, als gerade alle Koordinaten der Politik sich verschoben, beschloss die Sozialdemokratische Partei in der noch geteilten deutschen Hauptstadt (West) ihr siebentes Grundsatzprogramm nach Eisenach (1869), Gotha (1875), Erfurt (1891), Görlitz (1921), Heidelberg (1925) und Bad Godesberg (1959). Den Namen „Berliner Programm“ trägt nun das sozialdemokratische Schlußdokument der westdeutschen Bundesrepublik. Für ein neues, gesamtdeutsch zu erarbeitendes Grundsatzprogramm steht er nicht mehr zur Verfügung. Es sei denn man nähme, wie im Fall Bad Godesberg einen einzelnen Stadtteil als bescheideneres Namenssymbol, vielleicht Prenzlauer Berg. Hauptsache aber ist, die Debatte wird bald auch offiziell freigegeben, durch den SPD-Vorsitzenden selbst, etwa auf dem Parteitag im Dezember in – na klar – Berlin.

Es wird eine nachholende Diskussion sein. Die inzwischen überwiegend pensionierten oder verstorbenen Autoren der Kommissionsentwürfe aus den achtziger Jahren formulierten das progressive Selbstverständnis ihrer Zeit: ein von 1968 inspiriertes institutionenskeptisches Staats- und Gesellschaftsbild, dazu Furcht vor großem Krieg, vor großer Technik, vor großer Ökokatastrophengefahr. „Wir“, heißt es in einem Satz, „kämpfen für eine friedliche Welt und eine lebensfähige Natur, für eine menschenwürdige, sozial gerechte Gesellschaft.“ In dieser Reihenfolge. Und soziale Gerechtigkeit erschien der sanften SPD der Nach-Schmidt-Ära vor allem als eine Frage des Ausgleichs zwischen Nord und Süd, zwischen Männern und Frauen. Das poppige Parteilied dieser Episode (Text und Musik: Dieter Dehm) hörte auf den Refrain: „Und sind wir schwach und sind wir klein, wir wollen wie das Wasser sein, das weiche Wasser bricht den Stein.“ Schön war, im spätgoldenen Mauerschatten des Ost-West-Konflikts, fern der Macht in Bonn, diese gesinnungsstarke Zeit, da man mit aller Welt solidarisch sein wollte und beschloß: „Die Antarktis muß vor ökonomischer Ausbeutung geschützt werden.“ Irgendwie scheint aber das Land, das Gerhard Schröder heute regieren muß, erstens bis zehntens eine Reihe anderer Probleme zu haben, als die, die das 89er Programm für uns alle gelöst hat. Nicht zu reden von der völlig veränderten internationalen Szenerie und dem deutsch-deutschen Wohl und Weh – aber wie dekliniert eine sozialdemokratische Regierung bei einer Staatsquote von an die 50 Prozent heute soziale Gerechtigkeit? Ist sie an der Höhe der öffentlichen Ausgaben zu messen? Ist Bafög als Zuschuss für wenige die gerechteste Lösung, als Darlehen für viele dagegen reaktionär? Ist es menschenfreundlicher die Sozialhilfesätze zu erhöhen oder eher Sozialhilfeempfängern zu erlauben, in höherem Maße als bisher etwas hinzuzuverdienen? Welches Modell eines aktivierenden Sozialstaates wählen wir uns aus dem Wettbewerb der regierenden sozialdemokratischen Parteien Europas für Deutschland aus?

Oder das Thema Geld: Im Berliner Programm kein Wort zur Staatsverschuldung. Dagegen wird jetzt die Haushaltskonsolidierung, die Reduzierung der Nettokreditaufnahme Richtung Null zur übergeordneten Ratio rot-grünen Regierungshandelns. Aus gutem Grund: die Vereinigungslasten eingeschlossen haben Bund, Länder und Kommunen einen Schuldenberg von 2,3 Billionen Mark abzutragen. Dafür zahlen sie jedes Jahr 120 Milliarden Mark Zinsen an Banken und Vermögende, Tendenz weiter steigend. Dies als die unsozialste Umverteilung von unten nach oben zu begreifen, ist ein sehr sozialdemokratischer Verdienst der angeblich so kaltherzigen Modernisierer Schröder und Eichel. Im Programm steht es nicht.

Andererseits: Wo ist die neue sozialdemokratische Politik, die überzeugende Rhetorik, das sympathische Identifikationsangebot für die nichtflexiblen Menschen, für die vormodernen Mütter und Väter, die nicht nach globaler Karriere, nach schnellerem, härterem Leben streben, die in Ruhe gelassen werden wollen, damit sie das tun können, was das Leben und die Gesellschaft (hier, nicht in der Antarktis) lebensfähig macht? Das Primat der „coolen“ Ökonomie am Ende der 90er Jahre ist genauso eine Mode wie es die technokratische „Wissenschaftlichkeit“ der siebziger Jahre und die Überforderung des „Politischen“ in den Achtzigern war. Deshalb sollte die Neue Mitte in einem neuen Programm nicht als etwas Ökonomisches beschrieben werden. Die Menschen in der Mitte sind – mit einer Formulierung von Bill Clinton – diejenigen, die die Arbeit machen, die Steuern zahlen, die Kinder großziehen und sich an die Regeln halten. Sie leben nach ihrem eigenen Empfinden nicht in der Weltgesellschaft, wenn sie im Garten sitzen und grillen.

Ein neues Parteiprogramm sollte deshalb nicht nur helfen, die recht breit gewordene Lücke zwischen Papier und Praxis zu schließen, sondern auch die gefühlte Distanz zwischen politischer Innovationsbegeisterung und Lebenswirklichkeit überbrücken. Insofern könnte die geordnete Diskussion um das „Prenzlauer“ (oder wie auch immer) Programm dazu beitragen, die Zeit der Regierung Schröder über eine Legislaturperiode hinaus zu verlängern. Auch Parteivorsitzender wäre er dann viele Jahre. Er braucht ein eigenes Programm.