Beitrag von Hans-Peter Bartels, MdB in der Tageszeitung "Die Welt" vom 27. April 2000

Die Neue Mitte, die Zweite Moderne, der Dritte Weg – an Namensschildern fehlt es der sozialdemokratischen Zukunft nicht. Und die Welt ist voller Ratgeber: Der Brite Anthony Giddens („Jenseits von Links und Rechts“), Chefideologe von Tony Blairs New Labour, reist jetzt öfter mal nach Berlin. Der Amerikaner Richard Sennett („Der flexible Mensch“), der zurzeit in London arbeitet, wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung geschätzt und geehrt („Buch des Jahres“). Und Ulrich Beck, der sonst eigentlich immer für Deutschland den Fortschritt erforscht. und lenkt, ist nun auch nach London umgezogen und spricht zu uns von dort.

Doch die Welt ist auch voller Hinkepanks. Das sind freundliche einbeinige Wesen, die in den Herry-Potter-Romanen der britischen Bestseller-Autorin Joanne K. Rowling vorkommen und versuchen, Zauberer wie auch einfache Muggel (Menschen) in die Sümpfe zu locken. Wem ist zu trauen? Wo ist der Weg?

So britisch, so international war noch keine der bisher sieben sozialdemokratischen Grundsatzprogrammdebatten seit 1869 angelegt. Es reicht nicht mehr, daß Karl Marx im Lesesaal der British Library allein die Bewegungsgesetze der Geschichte und der menschlichen Emanzipation entdeckt. Deshalb lädt sich Rudolf Scharpings Programmkommission, noch bevor sie selbst zu arbeiten anfängt oder auch nur vollständig benannt ist, auswärtige Experten fürs Grundsätzliche zu Dialog. Deshalb testet Wolfgang Thierses Grundwertekommission den Erfolg anderer regierender sozialdemokratischer Parteien in Europa – „Die ‚Dritten Wege′ der Sozialdemokratie im Vergleich“: Großbritannien, Holland, Schweden und Frankreich. Und deshalb treffen sich Gerhard Schröder und Kollegen, die Regierungschefs aus den wichtigsten Mitte-links-Parteien der Welt (Blair, Jospin, Clinton, Cardoso …) jetzt regelmäßig zu „Modernisierergipfeln“, neulich in Florenz, demnächst in Berlin.

Aufsehen erregend ist allerdings bisher mehr der Aufwand als der Ertrag. Die SPD kostete es schon einige Überwindung, überhaupt ihr kaum gebrauchtes Parteiprogramm von 1989 für veraltet zu erklären. Jetzt ist erst einmal viel Anpassung an die Wirklichkeit zu leisten: Staatsverschuldung ist nicht okay, sondern schlecht; Bundeswehrkampfeinsätze dagegen sind nicht von vornherein schlecht, sondern – je nachdem – okay.

Visionen einer schönen Welt von morgen hat bisher kaum im Angebot. Stattdessen die alte radikalliberale Ideologie der Bewegung und Beschleunigung, die schon Marx und Engels 1848 dem Besitzbürgertum zugeordnet hatten. Getreu dem alten Basis-Überbau-Schema soll neue Technik (damals Dampf, heute Computer) die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionieren: Platz für die neuen Produktionsmittel – die neuen menschlichen Beziehungen werden sich schon finden! Aber neue Technik rechtfertigt es nicht, die Menschen sozial heimatlos zu machen.

Zurzeit allerdings wird in der Modernisierungsdebatte ein fürchterliches Menschen- und Gesellschaftsbild propagiert. Der neue flexible Mensch ist jung, gut ausgebildet, durchsetzungsstark, bereit, jederzeit umzuziehen, ohne ernsthafte Bindung außerhalb seines Berufs, allein interessiert an Karriere und Geldverdienen. Die ökonomische Modernisierung treibt so die Individualisierung weiter voran. Bindungslose Mobilität wird heute so selbstverständlich vorausgesetzt, als sei es egal, ob Menschen überhaupt noch Verantwortung für Mitmenschen übernehmen, für Kinder, für alte Eltern, für die Gemeinde, in der sie leben. Hier geht es um Freiheit. Um die ganz grundlegende Freiheit, persönliche, gemeinschaftliche Bindungen einzugehen. Dies scheint mir der Widerspruch unserer Zeit zu sein: Die Ökonomie fordert mehr denn je Flexibilität, Kurzfristigkeit. Die Menschen aber brauchen Sicherheit, Langfristigkeit, um ihr Leben außerhalb der Erwerbsarbeit selbst frei gestalten zu können.

Zwischen diesen beiden Polen, Flexibilität und Sicherheit, wird der Freiheitsdiskurs der Zukunft geführt. Dabei muss die SPD sich politisch gar nicht für die eine oder für die andere Seite entscheiden, sondern eine vernünftige Balance finden, ein gut sozialdemokratisches „Ja, aber…“.

Neue Technik: Ja. Sie hilft, Ressourcen zu sparen, die natürliche Umwelt zu schützen, mehr Wohlstand mit weniger Aufwand zu produzieren. Aber: Wir müssen auch unsere soziale Umwelt schützen. Technik ist kein Selbstzweck. Und die Freiheit des globalen Kapitalverkehrs ist kein Ersatz für die Freiheit jedes einzelnen Menschen, sein Leben selbst zu bestimmen. Die Hinkepanks mögen das anders sehen und anderes raten.