Was will die Generation Berlin?, hatte Richard Herzinger in der ZEIT (Nr. 39/1999) gefragt und meinte, diese Gruppe fördere die Verspießerung des intellektuellen Klimas. Hans-Peter Bartels, SPD-MdB und Mitherausgeber der neuen Zeitschrift „Berliner Republik“, widerspricht ihm.
Wir sind brav, nett, korrekt und pünktlich, streberhaft, staatstragend, milde, spießig. Das gibt doch schon ein rundes Bild, so langweilig wie ein Volkswagen: unsere praktische „Generation Golf“ eben. Die herablassenden Adjektive im Feuilleton markieren den Anfang von etwas. Bisher war alles intellektuelle Leben nach 68 nur Negation: nichts Eigenes, nichts Richtiges, nichts. Alles Jüngere war einzig in den Kategorien von Mode und Lifestyle zu fassen. Nun sind die Helden des vergangenheitspolitischen Protests und der lebensweltlichen Befreiung zwischen 50 und 60 und im Ziel, sie bilden das Establishment der Berliner Republik. Kann, muss, darf danach etwas kommen? Welches System wollen die Nach-68er – wild und kompromisslos – ihrer Umwelt überstülpen? Wo ist das Glossar der neuen Begriffe zum Auswendiglernen?
Wer das Remake von 68 sucht, sei es als Kopie, sei es als Negativ, Kopf stehend oder seitenverkehrt, der wird nur 68er finden und manche Epigonen in Medien und Wissenschaft, Gewerkschaften und eingefrorenem Jusotum. Alle Positionen des Anything-goes-Universums sind besetzt: von der promiskuitiven Kommunardenherrlichkeit und dem RAF-Terrorismus über Guru-Bewegungen, Spontispaß und Ökopax-Rot-Grün bis zum Postmaterialismus, Dekonstruktivismus, Kommunitarismus und Cohibaqualmenden Neoliberalismus. Manche denken auch wieder sehr national. Kein Platz, nirgends.
Richard Herziger hat Recht, wenn er über den unzulänglichen politischen „Nachwuchs“ zwischen 20 und 45 schreibt: „Die Marktwirtschaft wird in vollem Umfang bejaht und die liberaldemokratische Verfassung als Geschäftsgrundlage akzeptiert.“ So ist es. Wir haben, wie unsere Vorgängerformation, keine bessere Totalalternative in der Tasche – und wissen es sogar schon. „Nach 68“ ist und hat noch kein Programm. Wir werden nicht Marx durch Dilbert ersetzen. Wir werden wahrscheinlich auch nicht „Generation“ sein wie die inzwischen als geistiger peer-group-Zusammenhang zerbröselte Mutter aller Generationen. Die Generationenfragen, die sich uns stellen, haben weniger mit biografischem Sich-Durchsetzen zu tun als vielmehr mit neu-alten politischen Konflikten in der Wirklichkeit. Daran zu arbeiten ist keine Altersfrage, jeder kann dabei sein, auch die Altvorderen; und nicht jeder Jüngere muss.
Unsere Themen sind nicht so charmant wie freie Liebe und Klassenkampf. Sie heißen Staatsverschuldung, demografischer Wandel, Rente, Migration, Bildung, Umwelt, Familie und Arbeit. Die Furcht vor großem Krieg, großer Technik und großer Ökokatastrophe, wie sie im Schlussdokument der westdeutschen Enkel-SPD, dem Berliner Grundsatzprogramm von 1989, ihren höchsten Ausdruck fand, ist Geschichte. Unsere Aufgaben verbrauchen weniger Pathos. Aber sie bedürfen großer Lösungen.
Dafür muss allerdings Schluss gemacht werden mit einigen politischen Korrektheiten, die das Umdenken behindern: Schuldenpolitik löst keine Probleme, sondern ist ein Problem. Der Tiefstand unserer Geburtenrate ist keine Herausforderung für finstere Mutterkreuzpolitiker, sondern für aufgeklärte Sozial-, Bildungs-, Gleichstellungs- und Familienpolitik, die den Vorwurf unflexibler Verspießerung souverän abtropfen lässt. Wer darüber hinaus Zuwanderung will, muss die Integrationskräfte stärken; das heißt nicht Multikulti-Tanzfolklore, sondern erstens, zweitens und drittens: Deutsch für alle; bis die höchste aller Schranken, die Sprech-(Schreib- und Lese-)Barriere, überwunden ist. Bildung verbessert nur dann Chancengerechtigkeit und soziale Mobilität, wenn Leistung im System auch gefordert, gefördert, gemessen und bescheinigt wird. Denn Leistung, nicht Herkunft, soll den Unterschied machen.
Die 68er auf der Höhe ihrer Kraft waren super im kritischen „Entzaubern“ aller Institutionen des gesellschaftlichen („repressiven“) Zusammenhalts, im Zerschlagen von Strukturen. Aber konstruktiv? Welche Institutionen haben sie geschaffen? Für das neue Denken, das vielen von uns vorschwebt, bietet der von einer kleinen sozialdemokratischen Spitzengruppe mehr oder weniger absichtsvoll wieder aufgenommene Neue-Mitte-Diskurs (gab′s 1974 schon mal) reichlich Anknüpfungspunkte. Das Neue daran ist die Abkehr von der pseudomodernen Zielgruppensegmentierung sozialdemokratischer Politik und die Definition eines aktiven Zentrums der Gesellschaft, das alle Lasten – Beruf, Kinder, Rentenbeiträge, Pflege – zu tragen habe; in den Worten von Bill Clinton: diejenigen, die die Arbeit machen, die Kinder großziehen, die Steuern zahlen und sich an die Regeln halten. Sie sollen im Mittelpunkt einer nicht klassen-, nicht zielgruppen-, sondern gemeinwohlorientierten Reformpolitik stehen. Dieser bereits begonnenen Politik fehlen noch die Worte und die Mehrheiten.
Ob die Herausbildung einer neuen verbindlichen sozialdemokratischen Programmphilosophie gelingen wird, hängt auch von der Haltung derer ab, die mit diesem Programm in den nächsten 10, 20 Jahren operieren müssen. Heinz Bude, der soziologische Erfinder der „Generation Berlin“ , schreibt, nötig sei nunmehr der Generationenwechsel „von einer Haltung der Kritik, die sich dem ganzen gegenüberstellt, um sich selbst ins Ortlose zu retten, zu einer Haltung der Definition, die sich selbst exponiert, um die Dinge in Fluss zu bringen“. Der zweite Haltungsversuch, der für uns Nach-68er typisch werden kann, ist zweifellos der bescheidenere.