Gastbeitrag von Hans-Peter Bartels in der Neuen Züricher Zeitung vom 11./12. Oktober 2008

Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas eine lebhafte Debatte über die Zukunft der Wehrpflicht. Liberale, Grüne und Linke wollen in der Bundesrepublik den Ausstieg aus dem Pflichtdienst. Sie begründen das damit, dass sich die Sicherheitslage seit Ende des Kalten Krieges fundamental verändert habe. Die Beobachtung ist richtig – dass sich daraus aber eine Art Automatismus zur Abschaffung der Wehrpflicht ergibt, klingt nach Ideologie. Auch das neue, zusammenwachsende Europa ist nicht frei von Bedrohungen.

Rasche Änderungen der Sicherheitslage

Die blutigen Balkan-Konflikte haben allen vor Augen geführt, dass Krieg nicht einfach von unserem Kontinent verschwunden ist. Die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 und in der Zeit danach zeigen, dass unsere Welt neuen Bedrohungen ausgesetzt ist, stärkeren, als wir erwartet hatten. Diese Erfahrungen der letzten Jahre machen eines sehr deutlich: Tiefgreifende Wandlungen der sicherheitspolitischen Lage sind auch kurzfristig nie auszuschließen. Sowohl die Auflösung des Warschauer Paktes als auch die neue asymmetrische Bedrohung durch die totalitäre islamistische Weltbewegung veränderten jeweils das Lagebild beinah von heute auf morgen.

Niemand sollte zudem die Gefahr unterschätzen, dass sich die Situation in den Einsatzgebieten von Nato-, EU- oder Uno-Truppen innerhalb kurzer Zeit zuspitzen könnte. Das hätte weitreichende Folgen, nicht nur für die betroffenen Soldaten, sondern für die Streitkräfte insgesamt. Wäre es sicher, dass die Nachwuchs-Gewinnung einer reinen Freiwilligenarmee dann noch hinreichend funktioniert? Gewarnt sei also vor dem schnellen Urteil, die Wehrpflicht habe ausgedient. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, dass die vor uns liegende Zeit viel berechenbarer sein wird als die gerade erlebte Vergangenheit.

Die deutsche Bundeswehr stellt sich inzwischen umfassend auf ihre neuen Aufgaben ein. Sie wird von 500 000 auf 250 000 Soldaten verkleinert, erhält neue Strukturen und neue Ausrüstung. Diese Transformation wird auch die Wehrpflicht nicht unberührt lassen. Auf der Tagesordnung steht nicht ihre Abschaffung, sondern die Weiterentwicklung zu einer, wie es in den Richtlinien des Verteidigungsministeriums heißt, «Wehrpflicht in angepasster Form».

Verschiedene Modelle sind in der Diskussion. Selbst die Schwesterparteien CDU und CSU diskutieren im Moment getrennt über die Zukunft der Wehrpflicht. Die bayrische CSU hat eine «sicherheitspolitische Dienstpflicht» in ihr neues Grundsatzprogramm geschrieben. Der CDU gilt die Gerechtigkeitsfrage als größtes Problem. Deshalb erhöht Verteidigungsminister Jung kurzfristig das Einberufungs-Soll, um «mehr Wehrgerechtigkeit» zu praktizieren. Auch vom dänischen Modell eines kurzen Schnupperdienstes in der Truppe ist zu lesen. Das Modell ist aber nicht übertragbar.

Wenn in Deutschland die Wehrpflicht weiterentwickelt werden soll, wird es am Ende ein deutsches Modell geben müssen. Dafür ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, welche eindeutigen Vorteile die Wehrpflicht bietet. Nur durch sie ist es möglich, dass alle männlichen Angehörigen eines Jahrgangs die Ausgangsbasis für die Deckung des Personalbedarfs darstellen. Eine soziale Vorauswahl findet nicht statt. Alle werden erfasst, alle werden gemustert, alle müssen sich mit der Möglichkeit einer Einberufung oder der Kriegsdienstverweigerung auseinandersetzen. Die Wehrpflicht sichert die Qualität der Personalauswahl. Sie garantiert die Bedarfsdeckung in jedem Fall: unabhängig von der jeweiligen Lage auf dem Arbeitsmarkt für männliche Jugendliche, unabhängig von der jeweiligen Sicherheitslage.

Die Wehrpflicht stellt ferner die beste Klammer zwischen Gesellschaft und Armee dar. Denn Soldat sein ist kein «Job», keine beliebige Dienstleistung. Deshalb ist es legitim, dass die Bundeswehr mit der Wehrpflicht über eine völlig andere Rekrutierungsmöglichkeit verfügt als etwa ein Wirtschaftsunternehmen oder die öffentliche Verwaltung. Das Problem der angeblich abnehmenden Dienstgerechtigkeit ist übrigens, allen anderslautenden Parolen zum Trotz, ein reiner Mythos. Von dem bis 1982 eingezogenen Jahrgang 1952 zum Beispiel leisteten 38 Prozent keinen Dienst. Rund 20 Jahre später war die Quote nicht wesentlich anders: Von dem bis 2003 eingezogenen Jahrgang 1980 waren 34 Prozent zu keinem Dienst verpflichtet. Absolute Gerechtigkeit gab es in der Vergangenheit nicht und wird es auch künftig nicht geben – zum Beispiel wenn ab 2010 nicht mehr 140 000 (wie 2003), sondern jährlich nur noch 70 000 Männer rekrutiert werden müssen.

Anreize für Rekruten

Bei einer intelligenten Weiterentwicklung der Wehrverfassung sollte es deshalb darum gehen, die Vorteile der allgemeinen Wehrpflicht mit der Chance auf die vollständige Bedarfsdeckung durch freiwillig Wehrdienstleistende (plus Zeitsoldaten wie bisher) zu verbinden. Einberufen werden diejenigen tauglich Gemusterten, die auf Befragen erklären, dass sie ihren Dienst in den Streitkräften auch leisten wollen. Diese Frage wäre neu. Sie führt ein starkes Element der Freiwilligkeit ein – das durch ein zusätzliches Anreizsystem (Boni bei der Vergabe von Studienplätzen oder in der Rentenversicherung) unterstützt werden kann. Im günstigsten Fall muss dann niemand mehr gegen seinen Willen herangezogen werden. Funktioniert aber die Freiwilligkeit im notwendigen Umfang nicht, wird ganz schlicht wie bisher nach Tauglichkeit und Bedarf einberufen. Dieses Modell hat die SPD an ihrem Parteitag im Oktober 2007 in Hamburg mit großer Mehrheit beschlossen. Die Formel heißt «Freiwilliger Wehrdienst» nach dem Prinzip: «So viel Freiwilligkeit wie möglich, so viel Pflicht wie nötig».

Unrealistisch ist die Vorstellung, mit dem Ausstieg aus der Wehrpflicht könne die Bundeswehr deutlich kleiner werden. Deutschlands Partner in EU und Nato hätten wenig Verständnis dafür, wenn das größte Land Europas, die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt, die Exportnation mit dem höchsten Anteil am Welthandel kleinere Streitkräfte unterhielte als Großbritannien oder Frankreich. Viel weniger als 250 000 Soldaten kann sich Deutschland politisch nicht leisten.