Meine Mutter, Jahrgang 1931, hat acht Geschwister; mein Vater, Jahrgang 1930, hat dreizehn Brüder und Schwestern. Manche habe ich nie kennen gelernt – der Krieg –, viele lange nicht gesehen. Von meinen Cousins und Cousinen, ich weiß nicht wie viele es sind, kenne ich nur wenige, und auch die nur aus der Distanz – wenn meine Eltern erzählen, was die Onkel und Tanten ihnen von ihren Kindern am Telefon erzählt haben.
Ich habe eine Schwester, meine Frau hat auch eine Schwester. Meine Schwester ist verheiratet und hat ein Kind, meine Schwägerin ist noch an der Uni, ledig, kein Kind. Wir haben eine Tochter, sie ist neun. Es wird wohl, wie es aussieht, bei dem einen Kind bleiben. So ändern sich die Zeiten: eine riesige Familie im Hintergrund, dann eine Kleinfamilie, wir. Und danach?
Wenn man Jugendliche heute fragt, was sie sich für ihr Leben in der Zukunft wünschen, sagen 90 Prozent: eine Familie, Kinder. Bei den jungen Frauen nimmt dann ab zwanzig der Kinderwunsch wieder deutlich ab, aus dem Plural wird ein Singular – ein Kind wäre vielleicht ganz schön. Man hat inzwischen in der Erwachsenenwelt gesehen, wie schwer es anderen fällt, Kind und eigenes Leben zu vereinbaren. Am Ende bleibt ein Drittel aller Frauen in Deutschland kinderlos, Tendenz steigend.
In keinem Politikbereich wird so konsequent töricht wie in der Familienpolitik vom Sein auf das Wollen geschlossen. Frauen und Männer zeugen keinen Nachwuchs, weil sie keinen wollen. Frauen erziehen ihre Kinder alleine, weil sie das gerne so wollen. Paare heiraten nicht, weil sie beide gleichermaßen nicht verheiratet sein wollen. Singles finden nicht zueinander, weil sie am liebsten alleine gelassen sein wollen. Quatsch! Dummer, ideologischer Quark!
Viele Menschen sind ganz und gar nicht glücklich mit ihrer Lebenssituation: sie wünschen sich Nachwuchs; einen Partner, mit dem sie die Erziehungsverantwortung teilen; die Verbindlichkeit der gesetzlichen Sorgegemeinschaft Ehe; die Zuneigung eines Mitmenschen. Und wir dürfen froh darüber sein, dass dieses Unglück nicht jammernd durch die Straßen prozessiert, sondern still als Los ertragen wird.
Natürlich gibt es Menschen, die niemals Kinder wollten. Oder Mütter, die wohl das Kind, keinesfalls aber den zugehörigen Vater um sich herum ertragen. Das mag eine in der einen (Fortgang der Gesellschaft durch die Generationen hin) oder anderen Weise (Alleinerziehendenstress mit allen Nebenfolgen für das Kind) problematische Lebenseinstellung sein, aber es ist jedermanns und -frau Recht, so zu leben. Die meisten, die so leben, haben sich allerdings dieses Schicksal nicht bewusst gewählt – aus der bunten Fülle der Optionen auf dem Markt des Lebensdesigns gerade dieses sperrige Modell ausgesucht. Meist ist Single-Dasein, Ein-Eltern-Familie oder Kinderlosigkeit die zweite Wahl.
Jenseits der Light-Beziehung
Auch wenn individualisierungsbesoffene Nachrichtenmagazine das zum hippen gesellschaftlichen Megatrend hochlügen: Trennungsschmerz, Alleinsein, den Zeitpunkt für Kinder verpasst haben – das ist nicht chic. Kummer ist immer uncool.
Und selbst das angeblich spießigste Paar-Arrangement, das es seit biblischen Zeiten gibt, die legitime Ein-Ehe, geht nicht deshalb immer öfter in die Brüche oder kommt bei Zusammenlebenden gar nicht erst zustande, weil alle Beteiligten das ausdrücklich so wollen, sondern weil der einen oder dem anderen die dauerhafte Selbstverwirklichung zu zweit immer schwer fällt. Es genügt, dass einer sich nicht traut, damit eine Ehe gar nicht erst geschlossen wird – was auch der andere Teil sich wünschen mag. Light-Beziehungen aber, freieste Liebe ohne gegenseitige Sorge, mögen ein Jugendtraum sein. Für ein volles, verantwortliches, reifes Erwachsenenleben taugen sie nicht.
Wir brauchen keine Theologie und auch keine neue Romantik, um festzustellen, dass die lebenspraktischste und die deshalb mit überwältigender Mehrheit gewünschte Familienform die Ehe mit Kindern ist. Dass diese Form aus den unterschiedlichsten Gründen, siehe oben, misslingt, spricht nicht dagegen, dass sie das stärkste Grundmodell, das Gravitationszentrum für alle Diskussionen über andere Formen ist. Zwei Eltern, Verbindlichkeit, lebenslange gegenseitige Sorge – das wäre nicht wenig: das Gegenmodell zum flexiblen Menschen aus dem modischen, Kapitalismus-sympathischen Ich-Universum.
Nun steht bei uns die Familie seit dreißig Jahren unter Ideologieverdacht. In manchen Teilen der deutschen Linken gilt die „klassische“ Kleinfamilie als Hochburg der Paschas, als Quell autoritärer Charaktere, als reaktionär. Im SPD-Grundsatzprogramm von 1989 heißt es scheinbar neutral:„Der Wandel der Gesellschaft spiegelt sich im Wandel der Lebens- und Beziehungsformen. In ihren Lebensgemeinschaften suchen Menschen Liebe, Geborgenheit, Anerkennung und Wärme. Sie gehen dazu vielfältige Formen von Beziehungen ein, die auf Dauer angelegt sind. Davon ist die Ehe die häufigste. Sie steht wie die Familie unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. Für uns haben aber alle Formen von Lebensgemeinschaften Anspruch auf Schutz und Rechtssicherheit.“ Also: Wandel, vielfältige Formen, Ehe die häufigste (noch), besonderer Schutz des Grundgesetzes (kann man wohl nichts machen). Aber.
Für liberale, frauenbewegte, individualistische, flexible Leute von heute scheint die Ehe nicht mehr normativ, sondern nur noch empirisch von Bedeutung zu sein. Ein gerade historisch werdendes Repressionsinstrument aus den vergangenen Tagen des Patriarchats. Gern werden auch unterschiedliche Familienformen gegeneinander ausgespielt: Jeder wird doch wohl noch so leben dürfen, wie er will! Und so wie er familienmäßig gerade lebt, glauben nun ausgerechnet unsere Links-Libertären, genau so will er auch leben, ist doch klar! Der Arbeiter will geknechtet sein, die Frau unterdrückt, die Beziehung soll zerrütten, das Kind zum Zankapfel werden – so wie es ist, so soll es sein! Das wäre links? Erklären wir also den status quo zum Ideal, die Empirie zur Norm, unterschiedlich gelungene und gelingende Arrangements für gleich gut!
Von Clinton lernen
Nein, so ist die Familienpolitik der SPD nicht, nur ihre Rhetorik ist so: Familie ja, aber. Der parteioffizielle Sprachkompromiss, der sich vom Familien-Gerede der alten Kohl-CDU abheben sollte, lautet: „Familie ist, wo Kinder sind.“ Das hört sich freundlich an, ist aber durchaus unfreundlich gemeint, wenn es zum Beispiel um die „Privilegierung“ der Ehe durch das Ehegattensplitting geht. Wo keine Kinder sind, sei an Familie nicht zu denken, lautet die Umkehrformel: keine Kinder da, keine Steuervorteile.
Aber ist nicht das Versprechen der Ehe auch fast immer eine Absichtserklärung? Wird nicht in der Zeit vor den Kindern angespart für die lange Phase der hohen, durch keinen Splittingvorteil voll abzudeckenden Kinderkosten? Und haben nicht die älteren Ehepaare im leeren Nest, wenn der Nachwuchs ausgeflogen ist, einen legitimen Anspruch auf fortdauernde Steuerermäßigung, weil sie mit allen Lasten (und früher auch ganz ohne Kindergeld) Kinder großgezogen haben? Für Kinder ist das eheliche Zusammenleben der Eltern weiß Gott keine notwendige Bedingung – aber wäre es nicht die wünschenswerteste, die sicherste, die verantwortlichste Form der gemeinsamen Sorge, nicht bloß die häufigste?
Familie besteht nicht nur da, wo Kinder sind, sondern ebenso, wo für eigene Kinder geplant und gespart wird, und da, wo einmal Kinder waren und die Alten zurückblieben. Das ist genauso Familie, wie all die Zusammenlebensformen, die fortschrittlicherweise und zu recht mitgemeint sein sollen, wenn Familie durch die Anwesenheit von Kindern definiert wird: Alleinerziehende, Stiefeltern usw.
Am schönsten hat Bill Clinton einen diskriminierungsfreien Familienbegriff gepflegt, der die Ehe nicht wegrationalisiert, die emotionalen Kosten misslungener Beziehungen nicht verschweigt und alle, die für Kinder sorgen, ausdrücklich einschließt. Clinton ist bei seinem Großvater aufgewachsen. „Ich wünsche ein Amerika“, rief er auf dem demokratischen Nominierungskongress 1992 seinen Wählern zu, „das jede Familie einschließt, jede traditionelle Familie, jede Patchwork-Familie, jede Ein-Eltern-Familie und jede Pflegefamilie. Jede Familie.“ Sicher sind die sozialen Bedingungen in den USA andere als in Deutschland. Aber wie über Familien öffentlich geredet und politisch gedacht wird, das macht schon einen Unterschied. Wo familiäre Bindungen als Gegenteil von individueller Freiheit verstanden werden und nicht als deren lebensnotwendige Voraussetzung, läuft manches schief in der Politik.
Während die Union lange Zeit für Familien nichts Besonderes unternehmen wollte, weil deren Fortdauer ihr ganz selbstverständlich erschien, betont die SPD oft die Familienfreundlichkeit ihrer Politik: höheres Kindergeld, mehr Erziehungsbeihilfe, erweiterte Regelungen bei Erziehungszeiten und Rentenansprüchen. Mit diesen Verbesserungen soll auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen gefördert werden: Familie und Beruf vereinbar machen, heißt das immer noch sehr ferne Ziel.
Große Schritte in diese Richtung hat die Politik aber aus eigenem Antrieb nie gewagt. Zu teuer, so der Glaube aller verantwortungsbewussten Parteien, unfinanzierbar. Wenn es hart auf hart geht, ist der familienpolitische Druck gering, die Lobby schwach. Substantielle Fortschritte kamen so immer nur durch höhere Gewalt zustande, durch Entscheidungen aus dem fernen Reich der politischen Unverantwortlichkeit. Den einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für den drei- bis sechsjährigen Nachwuchs hat nicht die damalige Union/FDP-Koalition durchgesetzt, sondern eine zufällige interfraktionelle Parlaments-Mehrheit im Zusammenhang mit der vom Verfassungsgericht in Auftrag gegebenen Reform des Paragraphen 218. Und die radikale Erhöhung der Kinderfreibeträge im Einkommenssteuerrecht verdanken die Familien nicht Rot-Grün, sondern direkt dem Bundesverfassungsgericht. Auch die Minderung der Beiträge von Eltern zur Pflegeversicherung ist nicht der Politik zuzuschreiben, sondern der familienfreundlichen Rechtsprechung unserer Verfassungsrichter. Dabei verfolgt das Gericht vordergründig keine emanzipatorischen Ziele – es verhilft nur dem Grundwert der Gleichheit, dass nämlich Gleiches gleich, Ungleiches aber ungleich behandelt werde, zum Durchbruch: Wer Kinder hat, ist steuerlich weniger leistungsfähig als Kinderlose; wer künftige Beitragszahler großzieht, leistet damit schon einen Teil seines Beitrages zur solidarischen, umlagefinanzierten Generationenvertrags-Sozialversicherung. Diese milliardenteure Gerechtigkeitskampagne aus Karlsruhe ist der mächtigste Antrieb für die Verbesserung der Lage von Familien in den Zeiten des Ego-Wahns. Die materielle Besserstellung erwerbstätiger Eltern (höhere Freibeträge, Betreuungsanspruch) schafft erst den Freiraum für das, was leicht zu sagen, aber schwer auch nur annähernd zu schaffen ist: die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit, dieser beiden inkommensurablen Welten.
Vor die Wahl gestellt zwischen Kindern und Karriere, wählen immer weniger Frauen – und das ist ein wesentlicher Fortschritt – die alte Rollenzuweisung der Mutter und Hausfrau. Viele versuchen den Spagat. Aber immer mehr Frauen wählen, oft schweren Herzens, die Option „keine Kinder“.
Es mutet absurd an, dass gegen die heraufziehende vergreisende, kinderarme Gesellschaft das Verfassungsgericht Einspruch einlegt mit der Begründung, ohne genügend Nachwuchs könne die Pflegeversicherung auf Dauer nicht funktionieren. Fürwahr, auf längere Sicht wird bei einer Geburtenrate von 1,3 oder 1,4 Kindern je zwei Erwachsene hier gar nichts mehr funktionieren. Die Lampen werden nicht mehr weitergegeben, eine nach der anderen erlischt; eine Gesellschaft schafft sich selbst ab.
Wickeltisch auf dem Männerklo
Für die Politik gibt es nur eine Wahl: Alles tun, damit es sich nicht auch noch materiell „rechnet“, die Kindersorgen anderen zu überlassen. Alles tun, damit Mütter und Väter beides verwirklichen können, Kinder- und Berufswunsch. Und gut über Familien reden. Schluss mit der Mama-Papa-Kind-Trauschein-Spießer-Stigmatisierung!
Konkret wäre der Staat gefordert, weiter in Betreuung und Erziehung zu investieren: mehr Krippen- und Hortangebote; mehr Ganztagsschulen jeder Schulart; eine „Familienkasse“, die Erziehungsgeld für ein oder zwei Jahre wie Arbeitslosen- oder Krankengeld als Lohnersatzleistung an das Erziehungszeit beanspruchende Elternteil zahlt; mehr Teilzeitmöglichkeiten für alle.
Wie eine familienfreundliche Arbeitsgesellschaft, in der Kinder eine Selbstverständlichkeit sind, aussehen kann, ist in manchen nordischen Ländern ganz gut zu besichtigen, wo schon auf der Fähre dorthin an Spielmöglichkeiten gedacht ist und auch auf der Herrentoilette ein Wickeltisch steht; wo trotz globalem Kapitalismus das drohende Flexibilisierungsgeschwätz sich in Grenzen hält, Spitzenpolitiker Erziehungsurlaub nehmen – und Frauen zuweilen schon die Hälfte der Macht erobert haben.