Beitrag von Hans-Peter Bartels, MdB in der Tageszeitung "Die Welt" vom 4. Mai 2001

Viele Deutsche sind reich. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung schätzt die Zahl der Vermögensmillionäre auf 1,5 Millionen. Dies ist eine vorsichtige Zahl, weil es schwer fällt, Rückschlüsse aus den Vermögenserträgen, aus Grund- oder Erbschaftsteuer auf die tatsächlichen Verkehrswerte von Immobilien- oder Aktienbesitz zu ziehen. Schon die alte Vermögensteuer erfasste nur einen Bruchteil der vorhandenen Werte. Und traditionell rechnen sich die Deutschen aus Furcht vor Sozialneid und vor dem Fiskus lieber arm als reich.

Der Hamburger Millionär, der rechtmäßig seinen Sozialhilfeanspruch begründen konnte, ist berühmt. Also werden eher zwei Millionen Deutsche ein Vermögen von mehr als einer Million Mark ihr Eigen nennen. Das Glaubensbekenntnis, es gebe in Deutschland immer mehr Arme und immer weniger Reiche, die dafür immer mehr besäßen, wird immer irreführender. Die Zahl der Reichen wächst. Belege dafür mögen neben der Vermögensstatistik zum Beispiel die Zulassungszahlen für Limousinen der Oberklasse sein, die Luxussanierung innerstädtischer Eigentumswohnungen oder die Neubauten in den Villenvororten.

Wohlstand umgibt nicht allein die Millionäre, sondern bestimmt auch Lebensqualität und Perspektiven ihrer Familie und Erben. Von den 80 Millionen Deutschen dürften an die acht Millionen in Millionärshaushalten leben oder um diese herum (etwa studierende Söhne und Töchter mit eigener Wohnung). Materielle Sicherheit ist kein Monopol einer kleinen Spitzenklasse der „oberen Zehntausend“, sondern das vererbbare Privileg der oberen zehn Prozent unserer Gesellschaft. Deutschland ist nicht scharf gespalten in Arm und Reich. Zwischen dem unteren und dem oberen Zehntel residiert eine breite Mittelklasse. Vierzig Prozent der Haushalte verfügt über Immobilienbesitz; mehr als 50 Prozent haben eine Lebensversicherung, Wertpapiere und Termingeld; drei Viertel ein Sparbuch. Im Schnitt verfügt jeder Haushalt über ein Vermögen von einer viertel Million Mark.

Die Mehrheit kommt mit ihren materiellen Möglichkeiten ganz gut zurecht. Die Freiheit, sein Leben selbst zu bestimmen, ist größer als je zuvor in der Geschichte. Also alles im Lot? Eben nicht: Gerade weil es vielen gut geht, ist das Elend am unteren Ende der Gesellschaft so wenig hinnehmbar: bei den neuen „ Überflüssigen“, wie der Soziologe Heinz Bude die nicht mehr gebrauchten Arbeitnehmer und Konsumenten nennt. So wie der wachsende Reichtum nicht ausdrücklich zum Hinschauen einlädt, so haben wir uns angewöhnt, über die Armut hinwegzusehen, auch weil mancher Alarmismus einen dagegen abgestumpft hat. Der Armuts- und Reichtumsbericht muss als dringender Hinweis gelesen werden: Weil Deutschland reich ist, ist Umverteilung möglich.

Solche Umverteilung funktioniert bereits gut bei der Wohneigentumsförderung, wo der Staat auf Milliardenbeträge fälliger Einkommensteuern verzichtet, das Vorhandensein von Nachwuchs subventioniert und Kommunen billiges Bauland, Erbpachtverträge und sogar Ansiedlungsprämien anbieten. Damit ist laut Armuts- und Reichtumsbericht seit Jahrzehnten die Verteilung des Privatvermögens, jedenfalls in Westdeutschland, „tendenziell gleichmäßiger“ geworden. Die neue kapitalgedeckte Zusatzrente ab 2002 wird dies noch verstärken.

Ungleichmäßiger ist die Verteilung der Einkommen aus Erwerbstätigkeit geworden. Das Gerechtigkeitsziel hier heißt nicht gleiches Einkommen für alle, sondern gleiche Zugangschancen für alle. Es muss darum gehen, soziale Mobilität zu fördern. Schlimm ist ja nicht, für eine Weile ein geringes Einkommen zu haben – viele Studentenhaushalte wären im herkömmlichen Sinne „arm“. Schlimm ist vielmehr die Perspektivlosigkeit, das Unvermögen, an seiner materiellen Situation etwas zu ändern. Die Armutsrisiken liegen im Ausschluss vom Arbeitsmarkt, im niedrigen Bildungsstatus und in einer prekären Familiensituation.

Soziale Ausgrenzung erleiden vor allem, so der Regierungsbericht, „Arbeitslose, gering Qualifizierte, allein Erziehende und Paare mit drei beziehungsweise mehr Kindern sowie Zuwanderer und Spätaussiedler“. Diesen Armen zu helfen ist keine Frage höherer Transfereinkommen, sondern eine Frage von Chancenmanagement: von verbindlichen Bildungsangeboten für Immigranten und gering Qualifizierte, dazu Eingliederungshilfen und, für die bessere Vereinbarkeit von Kindern und Erwerbstätigkeit der Eltern, zumutbaren Betreuungsangeboten. Wer soll das bezahlen? Der reichere Teil unserer Gesellschaft. Mittel sind an einer Stelle zu mobilisieren, wo es niemandem – außer vielleicht in der Seele – wirklich weh tut: im Erbfall.

Wo Millionenvermögen den Besitzer wechseln, ohne eigene Leistung der neuen Reichen, da darf die Gesellschaft, die diesen Reichtum möglich gemacht hat, zugreifen. Also: Bei hohen Freibeträgen (oberhalb von Omas Häuschen) müssen vor allem Immobilien höher besteuert werden, so wie es die SPD-Länder vorschlagen. Das Geld käme an der richtigen Adresse an: bei den Ländern. Diese sind zuständig für Bildung und, via Kommunen, Kinderbetreuung.