Buchpräsentation auf Einladung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Rede von Hans-Peter Bartels zur Buchpräsentation „Damit hatten wir die Initiative verloren“ Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90 auf Einladung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr am 27. Oktober 2014 in Potsdam:

Foto: zmsbw

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Sehr geehrter Oberst Dr. Mack,

sehr geehrter Dr. Wenzke,

sehr geehrte Damen und Herren,

 

wir kommen heute an einem Tag zusammen, der zu den vielen Jahrestagen der deutsch-deutschen Geschichte gehört. Solche Tage ermöglichen es uns, 25 Jahre später die Stationen des Herbstes 1989 noch einmal in Erinnerung zu rufen, die zweifellos ihren Höhepunkt am 9. November mit dem Fall der Mauer hatten.

 

Es begann mit der Entscheidung Ungarns, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen und damit den Eisernen Vorhang ein kleines Stück zu öffnen. Wir erinnern uns an die DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland und an die unvollendete Ansprache von Außenminister Genscher am Abend des 30. September 1989. Das letzte Wort, das man noch verstehen konnte, bevor unbeschreiblicher Jubel losbrach, lautete: „Ausreise“.

 

Am 7. Oktober feierte die DDR mit großem Pomp, aber schon fast unter Notstandsbedingungen, ihr 40jähriges Bestehen. Zwei Tage später folgte die unvergessene Montagsdemonstration vom 9. Oktober in Leipzig: 70.000 Demonstranten, die nicht mehr zu stoppen waren – der klare Wendepunkt der friedlichen Revolution.

 

An jeder einzelnen Station ließe sich hier die berühmte Frage stellen: „Was wäre gewesen, wenn …?“ Die Spekulation darüber, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn einer dieser Tage anders verlaufen wäre.

 

Diese Frage kann man stets an solchen Jahrestagen stellen. Und auch am heutigen Tage jähren sich zwei Ereignisse, bei denen die Welt an einem Scheideweg stand. Nicht 1989, sondern 1961 und 1962. In beiden Fällen hätte eine einzige andere Entscheidung die Menschheit in einen Dritten Weltkrieg führen können.

 

Die erste Situation spielte sich gar nicht so weit von hier ab, nämlich am Checkpoint Charlie. Dort, im Herzen Berlins, standen sich am 27. Oktober 1961 amerikanische und sowjetische Panzer gegenüber, aufmunitioniert und in jedem Augenblick bereit zum scharfen Schuss. Sie wissen, wie es dazu gekommen war: Die USA und die Sowjetunion stritten bereits seit längerem über den Vier-Mächte-Status Ganz-Berlins. Anfang September 1961 wurde Ost-Berlin als eigenständiger DDR-Bezirk einseitig zur Hauptstadt der DDR proklamiert. Kurze Zeit später beschloss die DDR-Regierung, den Westalliierten nicht mehr unkontrollierten Zugang nach Ost-Berlin zu gewähren. Deshalb verweigerten im Oktober 1961 DDR-Grenzsoldaten mehrfach US-Staatsbürgern die Durchfahrt in den sowjetischen Sektor. Dies stellte nun den Vier-Mächte-Status in Berlin auf den Kopf. Als Siegermächte wollten sich die West-Alliierten in ganz Berlin frei bewegen können – und vor allem nicht von Deutschen kontrollieren lassen.

 

General Clay sah sich daher veranlasst, Panzer mit Räumschilden am Checkpoint Charlie auffahren zu lassen, um der Position der USA Nachdruck zu verleihen. Kurz darauf wurden die amerikanischen Panzer wieder zurückgezogen. Als dann jedoch wenig später auf der sowjetischen Seite ebenfalls Panzer auffuhren, kehrten die US-Panzer augenblicklich wieder zum Checkpoint Charlie zurück. Sie standen sich gefechtsbereit für eine gefühlte Ewigkeit gegenüber. Nicht auszudenken, wenn einer der Soldaten die Nerven verloren hätte. Letztlich nahmen die USA und die Sowjetunion direkten Kontakt miteinander auf und konnten klären, dass beide Mächte nicht an einer militärischen Auseinandersetzung interessiert waren. Zu keinem Zeitpunkt zuvor hatte die Welt näher an einem Dritten Weltkrieg gestanden.

 

Genau ein Jahr später, heute vor 52 Jahren, stand die Welt erneut kurz davor, in einem Weltkrieg unterzugehen. Der 27. Oktober 1962 ging als „Schwarzer Samstag“ in die Geschichte ein. Es waren die Tage der Kuba-Krise. Die Sowjetunion hatte atomar bestückte Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert. Schnell spitzte sich die Lage zu: Präsident Kennedy versetzte sein Militär in Gefechtsbereitschaft, verhängte eine Seeblockade und forderte Chruschtschow auf, seine Raketen abzuziehen. Gleichzeitig hielten sich die USA Optionen für einen Luftangriff oder eine Invasion Kubas offen.

 

In dieser Situation wurde ein sowjetisches U-Boot vor Kubas Küste aufgeklärt und sollte mit Übungs-Wasserbomben von amerikanischen Zerstörern zum Auftauchen gezwungen werden. Den Amerikanern war nicht bewusst, dass das Sowjet-Boot über Torpedos mit Atomsprengköpfen verfügte. Die sowjetischen Offiziere wiederum realisierten nicht, dass es sich um keinen Angriff mit scharfen Bomben handelte. Sie gingen davon aus, dass zwischen den USA und der Sowjetunion bereits der Krieg ausgebrochen war und ihr U-Boot vernichtet werden sollte.

 

Der Kommandant hatte keine klaren Anweisungen. Er konnte Moskau nicht erreichen. Für ihn war klar, dass seine Besatzung sterben würde. Um die „Rote Marine“ nicht zu entehren, traf er deshalb die Entscheidung, einen atomar bestückten Torpedo auf den amerikanischen Zerstörer USS „Cony“ abzufeuern. Der Politoffizier war damit einverstanden. So fehlte nur noch die Zustimmung des zweiten Kapitäns an Bord. Dieser aber weigerte sich beharrlich, dem Schuss zuzustimmen. Er redete auf seine Kameraden ein und erreichte schließlich, dass der Atomwaffeneinsatz ausblieb.

 

Das U-Boot tauchte auf. Doch über Wasser war kein Krieg und die Offiziere erkannten den Irrtum ihrer Lageeinschätzung. Was wäre passiert, wenn sie den Atom-Torpedo abgefeuert hätten? Ein einzelner Offizier hatte mit seiner Courage und seiner Hartnäckigkeit den Ausbruch eines Atomkrieges verhindert.

 

Auch im Herbst 1989 gab es Momente, in denen die Situation hätte eskalieren können. Vielleicht hätte dies nicht mehr zum Ausbruch des Dritten Weltkrieges geführt. Aber auch ein Konfliktmuster wie im Sommer 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking hätte den Lauf der Welt anders aussehen lassen, wenn das im Herbst 1989 in Berlin oder Leipzig oder Dresden passiert wäre: Panzer gegen Demonstranten und 1.000 Tote.

 

Sowohl die Demonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig als auch die Nacht des Mauerfalls am 9. November hätten ganz anders enden können.

 

Meine älteren, mit dem heutigen Datum verbundenen Beispiele zeigen, wie einzelne Menschen, die vorher niemand kannte, durch ihre Entscheidungen den Verlauf der Geschichte beeinflussen können.

 

Das vorliegende Buch lässt an vielen Stellen erkennen, dass es auch in den bewaffneten Kräften der DDR zahlreiche Menschen gegeben hat, die in schwierigen Situationen Entscheidungen trafen, die letztlich mit ausschlaggebend dafür waren, dass wir heute von einer friedlichen Revolution im Herbst 1989 sprechen können. Es wurde nicht geschossen wie in Peking. Panzer fuhren nicht auf.

 

Am Abend des 9. November hatten die Kommandanten der Grenzübergangsstellen keine Vorgaben von ihren vorgesetzten Dienststellen. Sie waren in ihren Entscheidungen einsam und allein gelassen. Trotz der Brisanz der Lage und den am nächsten Tag zu erwartenden Konsequenzen entschieden sie, dem Bürgerdruck nachzugeben und die Grenztore zu öffnen.

 

In seinen Erinnerungen bringt der Chef der Grenztruppen der DDR, Klaus-Dieter Baumgarten, diese Wende-Situation so auf den Punkt: „Damit hatten wir die Initiative verloren.“ – Sie erkennen, dies gab dem vorliegenden Buch seinen sehr ausdrucksstarken Titel.

 

Das Werk erscheint als 23. Band der renommierten Reihe „Militärgeschichte der DDR“. Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr wird damit seinem Auftrag gerecht, die deutsche Militärgeschichte mit Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert zu erforschen und der öffentlichen Debatte zugänglich zu machen.

 

Der Sammelband fasst vier eigenständige Beiträge zusammen, die sich mit der Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR in der Wendezeit beschäftigen.

 

Wenn wir uns die Größenordnung der bewaffneten Kräfte der DDR vor Augen halten, verstärkt dies in der Rückschau die Erleichterung darüber, dass die Revolution weitestgehend unblutig geblieben ist. Eine halbe Million DDR-Bürger standen Ende der 80er Jahre potenziell unter Waffen. Theoretisch war es der Staatsmacht möglich, jede ungewünschte Opposition im Land zu unterdrücken.

 

Die zentrale Frage, auf die die Beiträge dieses Buchs immer wieder zurückkommen, ist daher, wie es kam, dass die friedliche Revolution tatsächlich relativ friedlich blieb.

 

In dem ersten Beitrag widmet sich der Historiker Oberstleutnant Heiner Bröckermann der Militär- und Sicherheitspolitik am Ende der DDR. Er selbst diente nach Verwendungen als Truppenoffizier und Kompaniechef, z.T. im Auslandseinsatz, als Dozent an der Offizierschule des Heeres, bevor er für acht Jahre im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam tätig war. Seit 2011 ist er Lehrgruppenkommandeur an der Unteroffizierschule des Heeres in Münster.

 

Bröckermann arbeitet sehr gut heraus, dass sich die DDR-Führung Ende der 80er Jahre nicht mehr nur mit dem ideologischen Gegner im Westen, sondern auch mit den Reformbestrebungen im eigenen Bündnis auseinandersetzen musste, von Danzig über Budapest bis Moskau. In Gorbatschows Sowjetunion: das „neue Denken“, Glasnost und Perestroika. Eine sowjetische Reform-Zeitschrift wurde in der DDR verboten. Im eigenen Land wuchs die oppositionelle und kirchliche Bürgerbewegung zum Neuen Forum. Es blieb zunächst verboten.

 

Bröckermann stellt anschaulich dar, wie Honecker versuchte das Spielfeld zu wechseln – mit einem „nationalen“ Ansatz: In den 80er Jahren entwickelte sich ein deutsch-deutscher Austausch über Fragen der Sicherheitspolitik – allerdings nicht auf staatlicher Ebene, sondern zwischen der SED und der SPD. Im Rahmen dieser „Sicherheitspolitik auf dem Nebengleis“, wie Bröckermann sie bezeichnet, wurden unter anderem die Möglichkeiten einer chemiewaffenfreien Zone und eines atomwaffenfreien Korridors diskutiert.

 

Honecker verfolgte mit seiner Art der „Friedenspolitik“ das Bestreben, diese als „historische Mission“ der DDR darstellen zu können. Überholt wurde er dabei jedoch von den Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Die Gespräche zwischen Ronald Reagan und Michael Gorbatschow mündeten in dem vollständigen Abzug atomarer Mittelstreckenraketen aus Europa.

 

Und während im Juni 1988 auf Initiative Honeckers das „Internationale Treffen für kernwaffenfreie Zonen“ in Ost-Berlin mit Teilnehmern aus 113 Ländern stattfand, verkündete die UdSSR eine einseitige Reduzierung der sowjetischen Panzertruppe. Honecker wurde ein ums andere Mal von Gorbatschow überholt, sein Versuch einer nationalen, eigenen Friedenspolitik blieb international bedeutungslos. Im eigenen Land, in der DDR stärkte aber das SPD/SED-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, das sog. „Streitpapier“ die demokratischen Kräfte. Sie konnten sich darauf berufen, dass politischer Streit erlaubt sein musste, auch im Innern.

 

Honeckers SED stand der Politik Gorbatschows kritisch gegenüber. Und da die Sowjetunion sich aus den inneren Angelegenheiten ihrer Warschauer-Pakt-Verbündeten zunehmend heraushielt – die sog. „Sinatra-Doktrin“ (I did it my way) – musste die DDR-Führung mit der sich anbahnenden Konterrevolution – wie sie es sah – allein fertig werden. Sie drohte mit dem chinesischen Gewaltszenario vom Platz des Himmlischen Friedens. Und sie versuchte, die bewaffneten Kräfte, einschließlich NVA und „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ gegen die Demokratiebewegung in Stellung zu bringen.

 

Im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 hatte Honecker die Aktivierung der geheimen Führungsstruktur der Bezirke und Kreise der DDR für den Kriegsfall befohlen. Dabei wäre dann auch der Einsatz der NVA eine Möglichkeit gewesen.

 

An diesen Gedanken knüpft der Beitrag von Rüdiger Wenzke an. Nach seinem Studium der Geschichte war Wenzke langjähriger Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR und wurde 1990 vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, dem heutigen Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr übernommen. Hier ist er als Wissenschaftlicher Direktor tätig.

 

Besonders spannend sind die von Wenzke herausgearbeiteten Details zu den Formationen, die aus der NVA heraus für den Einsatz gegen Demonstranten gebildet worden waren. Im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gab es aber innerhalb der militärischen Führung schon Stimmen, die Armee nicht mit Waffengewalt gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Die Diskussion führte schließlich zur Bildung von speziellen NVA-„Hundertschaften“, die in der regulären Struktur nicht vorgesehen waren. Damit konnte gewährleistet werden, dass die Truppe nicht unmittelbar nach Innen eingesetzt wurde. Andererseits standen damit aber eben zusätzliche Kräfte zur Verfügung.

 

Zum Einsatz kamen die Hundertschaften u.a. aus der 7. Panzerdivision im Wesentlichen in Dresden zur Absicherung des Hauptbahnhofs, während die Züge aus Prag hindurch fuhren; sowie in Ost-Berlin zur Absicherung der Feierlichkeiten zum Republikgeburtstag. Ausgestattet waren sie mit Schlagstöcken und Schutzschilden, aber nicht mit Schusswaffen –

oder um genau zu sein: nur für wenige Stunden in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober und vom 5. auf den 6. „Waffen und Munition wurden mitgeführt.“ heißt es in der Chronik des Militärbezirks im Anhang des Buches. Am 6. Oktober verbot Verteidigungsminister Keßler das Mitführen von Waffen.

 

Wenzkes Darstellung der Reaktionen innerhalb der Grenztruppen auf die Ereignisse vom 9. November zeigt beispielhaft, wie gelähmt die Verantwortlichen im ersten Augenblick waren. Der Chef der Grenztruppen, Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten, stellt hierzu fest: „Wir hatten die Grenzer im Stich gelassen. Kein Befehl, keine Weisung, nichts, womit wir Ihnen Halt oder Orientierung gegeben hätten.“ Die Reaktion der Militär- und SED-Führung erfolgte erst am nächsten Tag und wirkte chaotisch und orientierungslos. Truppen um Berlin wurden in „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ versetzt – doch weiter geschah nichts. Auch war man unsicher, ob Befehle überhaupt noch ausgeführt würden. Letztlich wurde die Alarmbereitschaft wieder aufgehoben.

 

An der innerdeutschen Grenze brach das Grenzregime in den Folgetagen regelrecht zusammen: eine Million Ausreisen, eine Million Einreisen täglich! Die Sperrzonen wurden aufgehoben, Befehle und Weisungen aufgehoben und der Einsatz von Scheinwerfern und Diensthunden eingeschränkt.

 

Der dritte Beitrag stammt von dem Journalisten und Historiker Daniel Niemetz, der sich in seiner Dissertation mit dem Einfluss der Wehrmacht auf das Militär der DDR auseinander­gesetzt hat. Seit 2004 arbeitet Niemetz für den Mitteldeutschen Rundfunk und hat zahlreiche Werke zur deutschen Militärgeschichte veröffentlicht. In seiner vorliegenden Ausarbeitung beschäftigt er sich mit der Rolle der Volkspolizei-Bereitschaften und der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ in den Wochen der Wende.

 

In einem kurzen Rückblick geht Niemetz auf die Entstehungsgeschichte von VP-Bereitschaften und Kampfgruppen ein. Die ungefähr 11.000 Mann starken Volkspolizei-Bereitschaften wurden infolge der Handlungsunfähigkeit der DDR-Regierung am 17. Juni 1953 eingerichtet und militärähnlich strukturiert, einschließlich Wehrpflichtigen.

 

Die Gründung der Kampfgruppen in den Betrieben diente dem Schutz der sozialistischen Ordnung. Allerdings verlagerte sich der Aufgabenschwerpunkt in der Zeit des Kalten Krieges schnell in den Bereich der Landesverteidigung.

 

Wie bei den Volkspolizei-Bereitschaften wurden die Kampfgruppen mit ihren 200.000 Kämpfern in den beiden Jahren vor dem Fall der Mauer wieder stärker auf den inneren Einsatz ausgerichtet. Niemetz schreibt, dass die Ausbildung ab Anfang 1989 darauf orientiert werden sollte, gegen Menschenansammlungen vorzugehen.

 

Bemerkenswert ist, dass dies heftige Reaktionen und Diskussionen bei den Angehörigen der Kampfgruppen auslöste, die immerhin zu 70 Prozent Mitglieder der SED waren. Am Beispiel des Bezirks Leipzig schildert Niemetz, dass sich insbesondere jüngere Kämpfer dagegen sträubten, als „Knüppelgarde“ mit Schlagstöcken gegen die eigenen Kollegen und Nachbarn vorzugehen. In zahlreichen Bezirken kam es zu Austritten aus den Kampfgruppen.

 

Das Innenministerium zog daraufhin die schriftlichen Ausbildungshinweise wieder ein – auch eine Art früher Verlust der Initiative. Immer wieder wurden Meinungs- und Stimmungsberichte aus der NVA, den VP-Bereitschaften, den Grenztruppen und den Kampfgruppen „nach oben“ weitergegeben. Jedes Ereignis von kritischen Diskussionen bis hin zu Austritten wurde vermerkt und gemeldet. Auch dieses alarmistische Meldewesen mag zur Verunsicherung der Führung beigetragen haben. Und es zeigt, dass gegen Unrecht und Willkür auch der kleine Protest zählt. Alles zählt. Auf jeden kommt es an.

 

Seit Mai 1989 wurden Angehörige der Volkspolizei-Bereitschaften bei den Montags­demonstrationen in Leipzig eingesetzt – nachdem die Demonstrationen im Westfernsehen gezeigt worden waren. Das massive Aufgebot an Sicherheitskräften zog allerdings erst Recht Aufmerksamkeit auf sich. Je größer die Präsenz der Sicherheitsorgane war, desto größer wurde die Zahl der Teilnehmer an den Demonstrationen.

 

Ab dem 2. Oktober 1989 kamen bei den VP-Bereitschaften auch Helme, Schilde und Schlagstöcke zum Einsatz. Innerhalb der Sicherheitskräfte wuchsen jedoch die Zweifel an der Verhältnismäßigkeit und Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes.

 

An anderer Stelle eskalierte die Lage. Am Abend des 4. Oktober 1989 sollten die Züge mit den Flüchtlingen aus der Prager Botschaft über das Gebiet der DDR und damit über Dresden in die Bundesrepublik fahren. Die aus diesem Grunde zusammengezogenen Sicherheitskräfte vor Ort wurden von der Anzahl der Demonstranten und von deren Gewaltbereitschaft und Wut völlig überrascht. Angst ging unter den Einsatzkräften um. Sie waren deutlich in der Minderzahl und für einen solchen Einsatz nicht ausgebildet.

 

Irgendwie standen sie zwischen den Fronten, auch in den Tagen danach. Einerseits forderte das Innenministerium ein härteres Vorgehen, auf der anderen Seite blieben die Demonstrationen zunehmend friedlich. „Keine Gewalt“ war die Parole. Stress, Angst, Wut und politische Frustration senkten schließlich die Reizschwelle der Polizisten und es kam zu Gewaltausbrüchen der Sicherheitskräfte.

 

Dies war keine gute PR für den Republikgeburtstag. Die SED reagierte auf die neueste Entwicklung mit einer Verschärfung der Propaganda und der offenen Androhung von Gewalt gegen „Störer“. In Plauen wurde dies gegen eine nicht genehmigte Ansammlung von 10.000 Menschen umgesetzt, indem Tanklöschfahrzeuge als Wasserwerfer eingesetzt wurden. Danach verschlechterte sich allerdings die Einstellung in der Bevölkerung gegenüber der Volkspolizei erheblich. Und die Freiwillige Feuerwehr Plauen protestierte offiziell schriftlich gegen den Mißbrauch ihrer Löschfahrzeuge.

 

Anders verhielt es sich in Ost-Berlin. Dort waren Journalisten aus aller Welt versammelt, die natürlich alles andere als über Gewaltakte der 15.000 Einsatzkräfte berichten sollten. Die Lage blieb daher zunächst eher ruhig.

 

Dies änderte sich, als sich eine Gruppe von 300 Demonstranten vom Alexanderplatz in Richtung Palast der Republik bewegte und schnell auf 5.000 Menschen anwuchs. Der Zug wurde in Richtung Prenzlauer Berg abgedrängt. Von da an gingen Stasi und Volkspolizei massiv gegen die Bürger vor. Die Situation eskalierte.

 

Niemetz zitiert hier sehr anschaulich den Beschwerdebrief eines SED-Parteisekretärs aus dem Bezirk Halle, der zusammen mit allen übrigen Fahrgästen beim Aussteigen aus der U-Bahn am Alexanderplatz festgenommen wurde.

 

„Was danach kam, hätte ich in unserem Staat nicht für möglich gehalten: […] Wir wurden in eine offene, sehr kalte Garage geführt und mussten uns mit Gesicht zur Wand, die Hände an der Hosennaht aufstellen […] Einige baten, auf eine Toilette gehen zu können Die erste Reaktion des VP war: „Das könnt ihr euch durch die Rippen schwitzen.“ Erst 30 Minuten später durften die ersten gehen. Aber alles in der Form eines für die Polizisten bestimmt recht amüsanten Gesellschaftsspiels. Im Laufschritt, den herumwedelnden Stöcken ausweichend, rannten wir aufs Klo, wo wir unter Aufsicht unsere Notdurft verrichteten. Insgesamt standen wir in der Garage 8 Stunden […] Gegen 8 Uhr wurden wir endlich in einen geheizten Raum gebracht […] Gegen 9 Uhr, also über 10 Stunden nach der Festnahme, bekamen wir eine Wurst zu essen und noch einen Becher Tee. Immer wieder stellten wir die Frage, warum wir festgenommen wurden und ob in Berlin U-Bahn-Fahren strafbar ist. Zur Antwort wurde uns gegeben, dass wir das von den Genossen der Fachorgane noch rechtzeitig erfahren werden. Erst kurz nach 11 Uhr wurde ich den Genossen der Kriminalpolizei vorgeführt. Als ich bei der Feststellung der Personalien angab, dass ich Mitglied der SED und Parteisekretär bin, änderte sich mit einem Schlag der Ton. Man entschuldigte sich bei uns […] Der Höhepunkt für mich war, dass uns die Genossen fragten, warum wir überhaupt festgenommen wurden. Ich antwortete, dass alle aus der U-Bahn Steigenden sofort abgeführt wurden.“

 

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse fand am 9. Oktober 1989 die nächste Montags­demonstration in Leipzig statt. Noch am Tag zuvor forderte der Innenminister alle Chefs der Volkspolizei auf, ein „geschlossenes Auftreten der feindlich-negativen Kräfte“ durch konsequentes und rechtzeitiges Einschreiten „zu verhindern bzw. konsequent zu beseitigen“. In diesem Sinne sollten in Leipzig 800 Volkspolizisten von 600 Kämpfern der Kampfgruppen und 1.300 Bereitschaftspolizisten unterstützt werden.

 

Bezeichnend ist, dass mehr als 40 Prozent der Angehörigen der Kampfgruppen erst gar nicht zum Einsatz erschienen oder ihr Kommen sogar ausdrücklich verweigerten. Die VP-Bereitschaften wurden von ihren Vorgesetzten in höchsten Tönen beschworen, die Front zu halten, Zitat eines Polizeiführers: „Genossen, ab heute ist Klassenkampf. Die Situation entspricht dem 17. Juni 53. Heute entscheidet es sich – entweder die oder wir.

 

Am Abend übertraf die Anzahl von 70.000 Teilnehmern dieser Montagsdemonstration alle Erwartungen der Sicherheitskräfte. Vermutlich waren diese Dimension und die absolute Friedfertigkeit der Demonstranten wesentlich dafür, dass der Abend gewaltfrei verlief.

 

Fünf Minuten bevor die Gruppen aufeinander trafen, am 9. Oktober um 18.35 Uhr heißt es im Einsatzprotokoll: „Nach Bestätigung wird befohlen, keine aktiven Handlungen gegenüber Demonstranten zu unternehmen. (…) An alle Einsatzkräfte ist der Befehl zu erteilen, daß der Ãœbergang zur Eigensicherung einzuleiten ist!“

 

Hinter diesem Satz steht im Protokoll ein Ausrufezeichen. Dieses Ausrufezeichen markiert vielleicht das Ende einer Option, die Gott sei Dank nie Wirklichkeit geworden ist. Und den Anfang vom Ende eines Regimes, das sich 40 Jahre lang nur durch die Drohung mit Gewalt aufrechterhalten ließ.

 

Es ist bemerkenswert, mit welcher Erleichterung auch die Einsatzkräfte die Klarstellung dieser Befehle aufnahmen. Niemetz führt hierfür zahlreiche, bewegende Beispiele an.

 

Der vierte und letzte Beitrag stammt von Matthias Uhl, ehemaliger wissenschaftlicher Projektmitarbeiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte und seit 2005 Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Moskau. Er ist ein ausgewiesener Kenner der Militärpolitik der UdSSR und behandelt in diesem Sammelband die Situation der sowjetischen Truppen in der DDR zwischen Perestroika, „Wende“ und Mauerfall. Zentrale Frage für ihn ist, warum die sowjetischen Truppen – anders als am 17. Juni 1953 –im Herbst 1989 nicht eingesetzt wurden.

 

Uhl beschreibt zunächst die historische Entwicklung der Roten Armee im Bereich der DDR. Ausführlich zeigt er, welchen Stärkeschwankungen die hier stationierten Truppen unterlagen. Besonders die Zahlen zum Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte verdeutlichen, welche Kräfte damals der NATO in Europa gegenüber standen. Allein die sowjetische Westgruppe in der DDR umfasste 400.000 Mann. Ausgestattet mit 7.000 Kampfpanzern, 5.000 Artilleriegeschützen, 700 Kampfflugzeugen und 220 Boden-Boden-Raketensystemen. Der Personal- und Technikbestand lag nahe 100 Prozent, die Munitions- und Treibstoffvorräte reichten für 90 Gefechtstage. Die Alarmierungszeiten betrugen wenige Minuten. Keine Frage, was dies bei einem Angriff bedeutet hätte.

 

Aber mit Gorbatschow änderte sich alles. Uhl zitiert Quellen, wonach der vollständige Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR bis 1995 geplant gewesen sei. Dieses würde mit dem politischen Kurs Gorbatschows übereinstimmen, nach dem die strategische Defensive in den Vordergrund rückte. Gorbatschow war gewillt, den Rüstungswettlauf zu begrenzen, da er für die Umsetzung der Perestroika die Militärausgaben senken musste.

 

Der politischen Führung der Sowjetunion lagen seit Mitte der 1980er Jahre Erkenntnisse darüber vor, dass die wirtschaftlichen Probleme der DDR Ende der 80er Jahre zu deren Zusammenbruch führen könnten. Gleichzeitig distanzierte sich die SED-Führung hartnäckig von den Reformen in der Sowjetunion. Studien des KGB legten nahe, dass der Status Quo in den Ostblockstaaten nicht aufrecht zu halten sei. Kühl wies Moskau die SED bereits im Sommer 1989 darauf hin, dass sie im Falle einer Aufstandsbewegung nicht mit einem Eingreifen der sowjetischen Truppen rechnen könne. Diese Haltung bekräftigte Gorbatschow bei seinem Geburtstagsbesuch in der DDR Anfang Oktober 1989. Gorbatschows Weigerung, das SED-Regime wie am 17. Juni 1953 militärisch zu unterstützen, war die wesentliche Voraussetzung für den friedlichen Verlauf des Herbstes 1989 und den Zusammenbruch der DDR. Die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn Gorbatschow – wie viele andere unbekannte kleine und große „Helden des Rückzugs“ (Enzensberger) – eine andere Entscheidung getroffen hätte.