Gastbeitrag von Dr. Hans-Peter Bartels, MdB in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 4. November 2007

Die SPD will, dass sie aus freiwilligen Wehrpflichtigen besteht. Und sieht darin keinen Widerspruch, sondern nur Vorteile
Ja oder nein, ganz oder gar nicht, so sortierte sich gestern noch der alte, lang gekannte Streit um die allgemeine Wehrpflicht. Gestern noch wurde Kurt Becks neue Formel vom freiwilligen Wehrdienst professionell verh̦hnt. Freiwillige Pflicht! spotteten Opposition, Koalitionspartner und Leitartikler Рschwarzer Schimmel, fauler Kompromiss, klassisch SPD!

Heute dagegen hat der Wettlauf um die intelligenteste Weiterentwicklung der Wehrpflicht schon begonnen. Die CSU beschließt auf ihrem Münchner Parteitag, sie wolle der Gerechtigkeit wegen eine sicherheitspolitisch begründete Dienstpflicht für Männer. Der CDU-Verteidigungsminister macht extra Geld für ein Notprogramm locker, um 6700 zusätzliche Grundwehrdienstleistende außerhalb von Dienstposten in der Bundeswehr zu beschäftigen – zur Stabilisierung der Ausschöpfungsquote, wie es aus dem Ministerium düster heißt. Und die Grünen legen im Bundestag einen Antrag vor, der mit wenigen Änderungen wunderbar anschlussfähig an das neue SPD-Konzept wäre.

Plötzlich sehen alle, dass etwas geändert werden muss, weil weniger Soldaten als früher gebraucht werden. Die Lage 2007: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden 46 Prozent der gemusterten jungen Männer aus Gesundheitsgründen aussortiert oder zurückgestellt. Da ist etwas krank. So wäre auf Dauer die Wehrpflicht nicht zu halten, die Legitimation würde erodieren.

Nach wie vor gibt es gute sicherheitspolitische Argumente für den Fortbestand der Wehrpflicht. Es ist zwar richtig: Die Gefahr eines konventionellen Krieges in der Mitte Europas besteht nicht mehr. EU und Nato haben sich nach Osten erweitert, Russland ist Partner. Aber das Ende des Kalten Krieges 1990 bedeutete nicht das Ende jeglicher Gefahr. Die blutigen Balkan-Konflikte haben uns vor Augen geführt, dass Krieg nicht einfach aus Europa verschwunden ist. Und die terroristischen Anschläge des n. September 2001 haben gezeigt, dass unsere Welt neuen Bedrohungen ausgesetzt ist, stärkeren, als wir erwartet hatten.

Tiefgreifende Änderungen der sicherheitspolitischen Lage sind auch kurzfristig nicht auszuschließen: Sowohl das Ende des Warschauer Paktes als auch die neue asymmetrische Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus veränderten die Sicherheitslage rasant, beinahe von heute auf morgen. Und was wäre, wenn sich die Situation in unseren UN-mandatierten Einsatzgebieten innerhalb kurzer Zeit dramatisch zuspitzen würde? Welche Auswirkungen hätte eine solche Entwicklung auf die Nachwuchsgewinnung einer möglichen Freiwilligenarmee?

Auch nach der Halbierung der Bundeswehr auf 252 000 Soldaten bleibt die Notwendigkeit, jährlich mehr als 70 000 junge Männer für den Dienst in den Streitkräften zu gewinnen. Dafür bleibt die allgemeine Wehrpflicht die beste rechtliche Grundlage. Die Alternative, den Personalersatz allein über den Arbeitsmarkt zu rekrutieren, brächte erhebliche Probleme und Unsicherheiten mit sich: Kommen die Freiwilligen in jedem Jahr in der erforderlichen Zahl? Bewerben sich die Richtigen, die auch dem Anforderungsprofil der Streitkräfte entsprechen? Oder eher diejenigen, die nichts anderes gefunden haben? Oder solche, die vom Militärischen ganz besonders fasziniert sind? Wird sich nicht die Mentalität der Bundeswehr ändern, wenn militärische Aufträge der Politik als outgesourcte Dienstleistung verstanden werden? Wie wirbt man in Deutschland dafür? Und nicht zu vergessen: Wie teuer wird es den Steuerzahler kommen? Die einschlägigen Erfahrungen aus den Streitkräften solcher Nato-Partner, die zur Freiwilligenarmee übergegangen sind, klingen wenig ermutigend. Immer mehr Dienstposten können nicht besetzt werden, die Qualität sinkt, die Kosten steigen.

Dominiert wird die Debatte um die richtige Wehrform nun seit Jahren von dem Vorwurf schreiender Wehrungerechtigkeit. Belastbare Zahlen zu diesem Thema liefert das Verteidigungsministerium doch nur ungern. Aktiv wurden solche Daten bisher nicht verwendet. Deshalb geistern in der öffentlichen Diskussion allerlei Phantasiezahlen unwidersprochen umher. Tatsächlich haben zum Beispiel vom Jahrgang 1952 insgesamt 38 Prozent keinen Dienst geleistet. Eine Generation weiter, beim Jahrgang 1980, wiederum liegt die Quote der Nichttauglichen, der Nichtgemusterten, der Wehrdienstausnahmen und Nichtgezogenen bei 34 Prozent: 100 Prozent waren es also nie, die als Soldat oder Zivi, als Polizist oder im Katastrophenschutz Dienst nach Artikel 12a des Grundgesetzes geleistet haben, aber ziemlich stabil zwei Drittel, über zwei Generationen hinweg. Dienstgerechtigkeit war bis in die jüngste Vergangenheit ein Mythos, viel beschworen, doch durch die objektiven Zahlen nicht gedeckt. Auffallend ist im Übrigen der allezeit variable Umgang mit den Anteilen der als untauglich Ausgemusterten, Jahrgang 1952: 30 Prozent, Jahrgang 1980: 16 Prozent. Und jetzt: 46 Prozent.

Dass heute nicht mehr eine viertel Million, sondern nur noch 70 000 junge Männer jährlich in die Bundeswehr eintreten müssen, schafft neuen politischen Spielraum. Der SPD geht es nun darum, die Vorteile der allgemeinen Wehrpflicht mit der Chance auf die vollständige Bedarfsdeckung durch freiwillig Wehrdienstleistende (plus wie bisher 22 000 Zeitsoldaten jährlich) zu verbinden. Wenn das SPD-Modell funktioniert, muss niemand mehr gegen seinen Willen gezogen werden. Funktioniert die neue Freiwilligkeit wider Erwarten nicht, wird ganz klassisch weiter nach Tauglichkeitsauswahl und Bedarf einberufen. Dann wäre es genau wie heute, nicht besser, nicht schlechter.

Die Vorteile der Wehrpflicht sind eindeutig: Eine soziale Vorauswahl findet nicht statt. Alle werden erfasst, alle werden gemustert, alle müssen sich mit der Frage einer möglichen Einberufung zum Militär (oder Kriegsdienstverweigerung) auseinandersetzen. Die allgemeine Wehrpflicht sichert die Qualität der Personalauswahl, sie garantiert die Bedarfsdeckung in jedem Fall, unabhängig von der Lage auf dem Arbeitsmarkt für männliche Jugendliche, und sie stellt die beste denkbare Klammer zwischen Gesellschaft und Bundeswehr dar. Soldat sein ist kein Job, keine beliebige Dienstleistung.

Das neue Modell einer subsidiären Wehrpflicht behält alle Wesenselemente der allgemeinen Wehrpflicht bei, beschränkt sich aber bei der Einberufung auf diejenigen, die vorher auf Befragen erklärt haben, dass sie ihren Dienst auch leisten wollen. Diese Frage ist neu. Gibt es genügend geeignete freiwillige Wehrpflichtige, werden andere, Unwillige, nicht gezogen. Für manche werden die neun Monate auch immer eine Zeit des Prüfens und Abwägens sein: Lohnt es sich, länger zu bleiben?

Diese positive Grundhaltung könnte durch eine Reihe von Anreizen verstärkt werden, zum Beispiel durch einen Bonus beim Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen (Wartesemester), eine Erweiterung der Berufsförderungsdienstansprüche, Bafög-Vergünstigungen, den Erwerb von Führerscheinen bei der Bundeswehr (Personenwagen/Lastwagen/ Gabelstapler) und die stärkere Anrechnung von Wehrdienstzeiten für die gesetzliche Rentenversicherung. Noch manches mehr ist denkbar, natürlich auch ein höherer Wehrsold.

Die Attraktivitätssteigerung des Grundwehrdienstes würde zusätzliche Mittel in der Größenordnung von 100 oder 200 Millionen Euro binden. Im Vergleich zu den Bemühungen einer vollständigen Personalrekrutierung über den Arbeitsmarkt wäre sie vergleichsweise preiswert. Vermutlich würde die Zahl der Kriegsdienstverweigerer unter den neuen Bedingungen abnehmen. Jedem dieser jungen Männer ist, wenn er das wünscht, ein Zivildienstplatz zur Verfügung zu stellen. Gegen ihren Willen zum Zivildienst eingezogen werden sie nur, wenn auch Grundwehrdienstleistende entgegen ihrem erklärten Willen gezogen werden müssen.

Zivildienstplätze und Plätze im Freiwilligen sozialen Jahr sollten in Zukunft materiell gleich ausgestattet werden. Das soziale Jahr könnte auch den Zivildienst alter Art vollständig inkorporieren. Es wäre offen für junge Frauen (wie bisher) und für Wehrpflichtige, die nicht den Kriegsdienst verweigert haben, sich aber auch nicht freiwillig zum Wehrdienst haben rekrutieren lassen.

Im Übrigen spielt Freiwilligkeit bei der Ausgestaltung der allgemeinen Wehrpflicht schon heute eine wichtige Rolle: Reservisten werden nur noch einvernehmlich zu Übungen oder zum Auslandseinsatz herangezogen; Zivildienst leisten üblicherweise tatsächlich diejenigen, die sich selbst um eine Zivildienststelle gekümmert haben; und die freiwillig länger Wehrdienstleistenden (FWDL) sind zum zusätzlichen, über neun Monate hinausgehenden Teil ihres Dienstes nicht gegen ihren Willen eingeplant oder verpflichtet.

Pflicht und neue Elemente der Freiwilligkeit dürften also in der Praxis gut vereinbar sein. Sie sind es längst auch außerhalb der Bundeswehr. In Paragraph 16 des schleswig-holsteinischen Brandschutzgesetzes heißt es: Die Gemeinde hat eine Pflichtfeuerwehr aufzustellen, wenn der abwehrende Brandschutz (. . .) aufgrund fehlender freiwillig dienstleistender Personen nicht ausreichend erfüllt werden kann. Wenn es um unsere Sicherheit geht, ist und bleibt für die soziale Demokratie der beste Grundsatz: Freiwilligkeit so weit wie möglich – Pflicht so weit wie nötig.