„Warum sind die Kinder hier?“, frage ich den Heimleiter. Ich erwarte eine lange differenzierte Antwort, etwas über schwierige Elternhäuser, das Versagen der Gesellschaft, ein bisschen selbstkritische Heimapologetik – natürlich sei das immer die schlechteste Lösung, aber alles andere habe nicht geholfen. Wir stehen an einem idyllischen Badeteich mit einem Zirkuswagen auf der Wiese, in dem die Kinder in lauen Nächten auch mal übernachten dürfen. „Weil sie über sind“, sagt der Heimleiter.
Am liebsten würde ich mich mit diesem klugen Mann auf die Wiese setzen und weinen. „Weil sie über sind“ – ihre Eltern wollen oder können ihnen die Liebe, Sorge und Erziehung nicht geben, die nette Erwachsene aus ihnen werden ließen. Die meisten sind unangenehm auffällig, manche gewalttätig, einige eine Gefahr für sich und andere. 50 Kinder waren in den letzten Jahren in diesem Heim untergebracht, zur Zeit sind es acht, vier ausgebildete Mitarbeiter kümmern sich um sie. Der Heimleiter versucht, seine Erfolge zu quantifizieren: Für vielleicht zwei Drittel sei es im Heim besser gewesen als da, wo sie herkamen. Zehn Prozent habe die Erziehung hier sogar wirklich vorangebracht. „Und das schlechtere Drittel?“ Jedenfalls habe man weiteres Abrutschen gestoppt – solange die Kinder „in der Einrichtung“ waren.
70 000 Kinder leben in Deutschland in einem Heim, 50 000 bei Pflegefamilien, 10 000 werden in pädagogischen Tagesgruppen betreut, 1500 erhalten intensiv-pädagogische Einzelbetreuung. Über die Jahre bleiben die Zahlen der „erzieherischen Hilfen außerhalb des Elternhauses“ erstaunlich stabil. 1970: 100 000, 1995 (gesamtdeutsch): 130 000.
Die Moden wechseln wie die Begriffe und die Einrichtungen, doch erstaunlicherweise scheint es in diesem Segment hochprofessioneller Pädagogik gar keinen Fortschritt zu geben. Die Perspektiven der ins Leben entlassenen Kinder bleiben im Großen und Ganzen eher trübe. Dabei ist der Mitteleinsatz enorm: Ein kirchlicher Träger im Norden etwa berechnet für die Betreuung in einer Tagesgruppe 97 Mark pro Tag und Kind, in vollstationärer Unterbringung 224 Mark, bei Intensivbetreuung 330 bis 450 Mark. Für die voll- und teilstationäre Hilfe zur Erziehung wurden 1997 in Deutschland sieben Milliarden Mark ausgegeben.
Ein anderes Heim. Die zehn Jungen, betreut von drei Erziehern, müssen sich auf das Leben in der Wildnis vorbereiten, weil sie in den Schulferien Wanderausflüge nach Nordschweden machen. Aber es scheint mir weniger der „Outdoor“-Ansatz als der Typ Erzieher zu sein, der Erfolg verspricht. Zopf, Kettchen, enorm präsent, Chef. Er wird gesiezt. Am Tisch gibt es eine Sitzordnung nach Dauer der Zugehörigkeit, kein Schlabber-Outfit, sondern Jeans und T-Shirt, ordentliche Haare. Es gibt Zimmer- und Schrankkontrollen.
Die elf- bis 16-jährigen Jungen haben Bandenerfahrung, sind wegen Einbruchs und Körperverletzung auffällig geworden. Ihnen fehle das Selbstwertgefühl, sagt der Heimleiter. Dafür lernen sie hier erst einmal, was oben und unten, rechts und links, richtig und falsch ist. Wer den kernigen Karatemeister beobachtet, glaubt gern, dass seine Zöglinge freundlich zu den Nachbarn sind. „Alles nette Jungs“, sagt er. Wie entscheidend, frage ich mich, ist die Persönlichkeit, das Charisma des Erziehers?
Es gibt andere Einrichtungen, graue und helle, solche mit Kindern, die überwiegend aus scheußlichen Verhältnissen kommen, und solche mit Kindern, die sich in allen Verhältnissen scheußlich benehmen. Da ist der Siebenjährige, der noch jede Einrichtung, in die er kam, angezündet hat, und da ist der 16-Jährige, der sich, wenn er böse wird – wie sagt man? – „einkotet“. In manchen Fällen überlappen sich mit dem Hauptkomplex der staatlich veranlassten Heimerziehung die Zuständigkeiten anderer: der Jugendpsychiatrie, der Behindertenpädagogik, des Jugendstrafvollzugs.
Weil die professionellen Standards so unsicher sind wie in kaum einem anderen studierten Beruf ist das Erregungsniveau bei jeder Debatte hoch. Wenn aber eines Tages wieder über Reformen der Jugendhilfe gesprochen wird scheinen mir drei Punkte vordringlich:
Erstens dürfen die Jugendhilfe-Karrieren nicht zu lang werden. „Heimvermeidung“ allein ist jedenfalls noch kein sinnvoller pädagogischer Grundsatz.
Zweitens entspricht das Ideal der beteiligungswilligen und partizipationsfähigen Familie im 1990 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) vielleicht den Gründungshoffnungen der siebziger Jahre, aber nicht der Realität heute hilfebedürftiger Familien.
Drittens muss über Geld, Effektivität und professionelle Standards, auch über Persönlichkeitsleitbilder geredet werden. Wie lässt sich der Erfolg der Erziehungshilfe messen, wie ließe er sich steigern?