Beitrag in der Tageszeitung "Frankfurter Rundschau" vom 13. Dezember 1999

Der SPD fehlt die rhetorische Wärme. Hans-Peter Bartels und Carsten Riegert über Anforderungen an eine kinderfreundliche Gesellschaft

Gibt es eine linke Familienpolitik? Oder ist Familienpolitik immer rechts? Weil Familie sowieso strukturell konservativ ist? Beide großen Volksparteien arbeiten zurzeit an ihrer Politik und Rhetorik für eine familienfreundlichere Gesellschaft.

Die CDU legte jüngst ein – innerparteilich noch umstrittenes – Kommissionspapier mit dem Titel „Lust auf Familie, Lust auf Verantwortung“ vor. Kernpunkt der neuen CDU-Sicht: „Frauen haben den gleichen Anspruch wie Männer, Familie und Beruf zu vereinbaren.“ Das hat die SPD sich schon lange auf die Fahnen geschrieben – ergänzt vielleicht um eine leicht feministisch inspirierte Empfehlung, falls Familie und Beruf doch nicht gut vereinbar seien, lieber auf die familiäre Fessel, zu verzichten. Auch gilt Familie, zumal wenn sie um eine Ehegemeinschaft herum organisiert ist, bei sozialdemokratischen Frauen- und Familienpolitikerinnen eher als muffig.

Eine gewisse Verachtung für die „Mama-Papa-Kind-Trauschein“-Idylle kommt etwa im Ber-liner Grundsatzprogramm der SPD von 1989 zu Ausdruck, wo es scheinbar neutral heißt: „Der Wandel der Gesellschaft spiegelt sich im Wandel der Lebens- und Beziehungsformen. In ihren Lebensgemeinschaften suchen Menschen Liebe, Geborgenheit, Anerkennung und Wärme. Sie gehen dazu vielfältige Formen von Bindungen ein, die auf Dauer angelegt sind. Davon ist die Ehe die häufigste. Sie steht wie die Familie unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. Für uns haben aber alle Formen von Lebensgemeinschaften Anspruch auf Schutz und Rechtssicherheit.“

Wandel – vielfältige Formen – Ehe die häufigste (noch) – besonderer Schutz des Grundgesetzes (kann man nichts machen) – Aber … Soll heißen: Die Ehe ist für liberale, frauenbewegte, individualistische, flexible Linke von heute nicht mehr normativ, sondern nur noch empirisch von Bedeutung. Ein gerade historisch werdendes Repressionsinstrument aus den vergangenen Tagen des Patriarchats. Und solche kleinbürgerlichen Jungs wie Gerd, Oskar oder Joschka, die immer wieder gleich heiraten wollen, sind hoffnungslos altmodisch, sind romantische Machos – Spießer. Gern werden unterschiedliche Familienformen gegeneinander ausgespielt, fatale Tendenzbotschaft: je weniger Verbindlichkeit und Verantwortung, desto besser.

Beim Parteivorstand der SPD arbeitet nun seit einem halben Jahr eine Kommission mit dem Titel „Zukunft der Familie und sozialer Zusammenhalt“, deren Aufgabe es ist, ein modernes, positives Familienleitbild und eine dazu passende sozialdemokratische Politik zu formulieren. Vorsitzende ist die Mutter, Ehefrau, Witwe, Alleinerziehende, Karrierefrau und Großmutter, die stellvertretende Parteivorsitzende Renate Schmidt.

Dass Familie für die Wählerinnen und Wähler, die ja alle aus einer Familie kommen, von denen die meisten in einer Familie leben und die, wenn sie jung sind, sich mit überwältigender Mehrheit eine eigene Familie wünschen, ein durch und durch positiv besetztes Thema ist, zeigen etwa die Erfahrungen der amerikanischen Fortschrittsfreunde. Gegen Ronald Reagans republikanischen Sozialdarwinismus hatten linke Demokraten um Mario Cuomo Mitte der 80er Jahre begonnen, die „Idee der Familie“ zu propagieren. Der 92er Wahlkampf zwischen Clinton und Bush lebte vom Streit um die „family values“. Clintons Wahlversprechen zielten auf eine soziale Mehrheit, die auch in Deutschland der materielle Hauptadressat von Schröders Politik („für Arbeitnehmer und ihre Familien“) ist: jene ganz unspektakuläre Mittelklasse derer, die die Arbeit machen, Steuern zahlen die Kinder erziehen und sich an die Regeln halten.

Diejenigen, die alle Lasten für die Gesellschaft gleichzeitig zu tragen haben, müssen von der Regierung tatsächlich entlastet werden: Das Bundesverfassungsgericht hat dazu so deutlich wie nie die steuerrechtlichen Mindeststandards in seinen aufsehenerregenden Beschlüssen zur Familienbesteuerung gesetzt – auch eine Quittung der materiell völlig unzureichenden christlich-liberalen Familienpolitik der vergangenen Jahre.

Nun wird es eine weitere Erhöhung des Kindergeldes und die Einführung eines Betreuungsfreibetrages für Kinder geben – freilich mehr aufgrund verfassungsrechtlichen Drucks denn aus erweiterter Einsicht der politischen Führung. Dabei verpflichtet der programmatische Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“ zu noch deutlicheren Zeichen, damit die Familienpolitik nicht nur Querschnittspolitik, sondern echte gesellschaftliche Leitpolitik wird. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn es eine echte ernstgemeinte und politisch getragene „Priorität für Familie“ gibt, die sich im Handeln und in der Sprache zeigt.

Allerdings fehlt der sozialdemokratischen Politik dafür eine erklärende Philosophie, eine affirmative Sprache, wie sie vor allem Bill Clinton in seiner genialen Nominierungsrede auf dem demokratischen Parteikonvent 1992 gefunden hatte: „Ich will ein Amerika, das jede Familie einschließt: jede traditionelle Familie, jede Patchwork-Familie, jede Ein-Eltern-Familie und jede Pflegefamilie. Jede Familie.“ Anrührend wendet er sich an jedes Kind in Amerika, „das da draußen versucht, ohne einen Vater oder ohne eine Mutter groß zu werden Ich weiß, wie Du Dich fühlst. Auch Du bist etwas Besonderes. Du bist wichtig für Amerika. Und laß Dir niemals von irgendjemandem einreden, das Du nicht werden kannst, was immer Du willst!“

Soziales, gar familiales Pathos, eine emphatische Sprache mag uns in der deutschen Politik fremd erscheinen, aber ein lebenswärmerer Ton könnte helfen, eine neue Verbindlichkeit zu schaffen, die manche äußeren Organisationen politischer Loyalität – Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände – immer schwerer zustandebekommen. Clinton bringt seine Verbindung von Familie und Politik auf den Punkt: „Wenn andere Politiker Dir das Gefühl geben, daß Du nicht zu ihrer Familie gehörst, komm und sei Teil von unserer.“

Es geht nicht nur um die materielle Politik, sondern auch um das Gefühl, das vermittelt wird, wenn von Familie die Rede ist. Familie bedeutet Hoffnung, nicht Bedrohung. Niemand will das Scheidungsrecht einschränken. Jede politische Kraft, die bei Trost ist, die CDU eingeschlossen, will jeder Form von Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen entgegentreten. Alleinerziehende Mütter oder Vater – darüber gibt es keine zwei Meinungen – verdienen um des Wohls ihrer Kinder willen jede staatliche Unterstützung.

Und jeder kann, solange er die Rechte anderer nicht verletzt, leben wie und mit wem er will und soll nach seiner Facon glücklich werden. Das ist nicht Sache der Politik. Aber der Fortgang unserer Gesellschaft durch die Generationen hin, das ist ein politisches Megathema in einem Land mit einer Geburtenrate von 1,3 Kindern auf zwei Erwachsene. Warum ist unser Land nicht eltern-, nicht kinder-, nicht familienfreundlicher? Wie ist das Klima?

Eine politische Rhetorik zum Beispiel, die gegenüber der Zunahme von Ein-Eltern-Familien immer noch den Fortschritt der Scheidungsfreiheit preist, als müsse diese erst erkämpft werden, und von Verlust nicht reden mag, scheint wenig einfühlsam. Alleinerziehend zu sein, ist kein politisches und kein persönliches Ziel. Niemand nimmt sich das vor. Nur wenn es dann so ist, muß Politik dafür sorgen, daß geholfen wird. Die Scheidung aber ist kein Sieg über das Patriarchat, sondern eine meist schmerzhafte Lebenskrise für alle Beteiligten.

Inzwischen wird zudem ein „freiheitlicher“ Selbstverwirklichungs-Jargon populär, der schon die Faschismus-Keule schwingt, sobald die ungleiche Lastenverteilung zwischen Erwachsenen mit und solchen ohne Kinder zur Sprache kommt: Hier wird ja wohl niemand staatlichen Gebärzwang ausüben wollen, oder! Ihr bekommt schließlich Kindergeld, und wir zahlen schon genug Steuern! Die Journalistin Tissy Bruns schreibt: „So sehr wir die Bindungen heimlich wünschen, so wenig vertragen sie sich mit den unendlichen Möglichkeiten der Selbstentfaltung, mit Tempo, Mobilität und Konkurrenz. Wer beides will, führt fast ein Doppelleben: Wie unglaublich fern und fremd ist die Berufswelt der Familienwelt.“ Ihr Schluß: „Wir haben die Wahlverwandtschaften der normalen Verwandtschaft vorgezogen und müssen nun damit zurechtkommen. Aber die Kinder muß der Staat behüten und damit die Familien bevorzugen, in denen sie aufwachsen. Entschlossener sogar als früher … Den Kinderlosen darf er etwas abverlangen.“

Wer die Armut dieser Gesellschaft an Kindern beheben will, muss Kinderarmut bekämpfen. Kinder dürfen kein Armutsrisiko sein (und sind es doch gegenwärtig eine Million mal in Deutschland). Familie und Beruf müssen für Mütter und Vater zu gleichen Teilen und nach Wahl vereinbar werden durch gute Kindergärten mit langen Öffnungszeiten, kalkulierbare Schulzeiten, bessere Erziehungsurlaubsregelungen, flächendeckende Ganztagsschulangebote jeder Schulart in jedem Kreis, realistische Steuerfreibeträge sowie eine echte Familienförderung – und durch ein neues, familienfreundliches Gesellschaftsszenario, das nicht den unflexiblen, müden, sparsamen Eltern die Rolle der Dummen zuweist. Die gleichen mächtigen Tendenzen der Individualisierung, Liberalisierung, Deregulierung und Flexibilisierung, die heute das Familienleben so unattraktiv erscheinen lassen, sind übrigens auch die notwendigen Bedingungen des globalen Shareholder-Value-Kapitalismus.

Wie Staat, Kirche und Sitte, schreibt der Publizist Jan Roß, ist die Familie „eben nicht nur der freien Liebe im Weg, sondern auch der freien Wirtschaft.“ Die Kritik daran ist wertkonservativ, und sie ist klassisch links. In dieser Kritik am Primat der Ökonomie, im Plädoyer gegen den voll flexiblen und für den sozial verantwortlichen Menschen, könnten sich dennoch die großen politischen Kräfte dieses Landes treffen. Eine Rechte, die helfen will, Beruf und Familie für Frauen und Männer vereinbar zu machen, und eine Linke, die wieder Wert und Sinn der lebenslangen Sorge von Eheleuten, Eltern und Kindern füreinander erkennt, würden eine moderne Mitte der Gesellschaft begründen. Sie wäre neu.


Carsten Riegert (32), Jurist und Politologe, ist Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Deutschen Katholiken und (für die Arbeitsgemeinschaft der Familienorganisationen) Mitglied der Projektgruppe „Familie“ beim SPD-Parteivorstand