Fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit, halb verdeckt vom Beginn des Kosovo-Krieges, hat die Bundestagsfraktion der Grünen eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung vorgenommen, die nun null und nichts mehr mit der ökosozialistischen Utopie aus der heilen grünen Kinderstube gemein hat. Originell an den Thesen, eingebracht von einem neunköpfigen junggrünen Noch-nicht-Minister-Club um die „Modernisierer“ Matthias Berninger, Christine Scheel und Oswald Metzger, ist vor allem, daß ausgerechnet die Grünen so was sagen. Die Parolen als solche sind bekannt, und sie galten bisher weder als besonders links noch als grün. Die Bündnisgrünen haben also die neoklassische Wirtschaftstheorie entdeckt. Über das Schrödersche Verdikt, daß sich Politik nicht gegen die Wirtschaft machen lasse, herrscht nun offenbar auch bei den Grünen Einigkeit.
Ihre Rezepte einer – jenseits von rechts und links – „modernen“ Wirtschaftspolitik beschränken sich allerdings weitgehend auf jene Erkenntnisse, an denen die alte Bundesregierung schon gescheitert ist, ergänzt um das rot-grüne Kernthema ökologische Erneuerung, das bereits Oskar Lafontaine in den 1990er Bundestagswahlkampf eingeführt hatte.
Das Ursprungspapier der Modernisierer, Grundlage für einen nur leicht veränderten Fraktionsbeschluß am 23. März, reiht Versatzstücke wirtschaftsliberaler Ideologie aneinander. Die Ideen der Modernisierer münden in der These, daß „Nachfragepolitik“ mit „Angebotspolitik“ in ein „vernünftiges Verhältnis“ gesetzt werden müsse. Die Grünen begreifen sich in der Koalition als der „Reformmotor des notwendigen Strukturwandels“. So ist auch von einer weiteren Senkung der Spitzensteuersätze die Rede.
Ideal und Maßstab der grünen VWL-Profis sind die coolen Fondsmanager des Shareholder-value-Kapitalismus. Soweit hätte die grüne Initiative auch von den Unternehmensverbänden selbst formuliert werden können. In Stein zu meißeln wäre einer der letzten Sätze des Ursprungsmanifests – der so im Folgetext nicht mehr zu finden ist, aber dennoch interessante Aufschlüsse enthält: „Die Grünen verstehen sich als die politische Kraft der Haushaltskonsolidierung.“ Oha.
Arbeitsmarkt zu unflexibel
Thesen der Neoklassik werden – schwupp, welchem Glauben folgten wir noch gleich gestern? – zur Maxime politischen Handelns erhoben, ohne allzu viele Gedanken an die politische Umsetzbarkeit zu verschwenden, als ob das egal sei. Schließlich hat die Angebotspolitik, so wie sie von der CDU/CSU/FDP-Koalition verstanden wurde, zu einer schleichenden Entsolidarisierung der Gesellschaft geführt.
Die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, einem der reichsten Länder der Erde, ist ja nicht deshalb so hoch, weil nicht genügend Kaufkraft vorhanden wäre, sondern weil das Wachstum der Lohnnebenkosten eine zu große Diskrepanz zwischen Brutto- und Nettolöhnen bewirkt hat und der Arbeitsmarkt zu unflexibel geworden ist. Allein um den Investitionsattentismus der deutschen Wirtschaft zu durchbrechen, wäre es notwendig, den angeblichen Gegensatz von Angebots- und Nachfragepolitik aus der Diskussion zu verbannen. Ein Fehler Lafontaines lag darin, daß die Herstellung sozialer Gerechtigkeit – das Grundthema der Sozialdemokratischen Partei seit 136 Jahren – durch die Idee der „Nachfragepolitik“ eine zusätzliche wirtschaftspolitische Legitimation erfahren sollte. Solche Anleihen bei der Wirtschaftstheorie sind allerdings für die SPD und auch sonst gar nicht notwendig, wie etwa der Verfassungsgerichtsbeschluß zum Familienleistungsausgleich gezeigt hat: Familien mit Kindern brauchen nicht deshalb mehr Kindergeld, weil die Wirtschaft angekurbelt werden muß, sondern weil sie im Vergleich zu Kinderlosen benachteiligt sind.
Soziale Gerechtigkeit ist ein eigen Ding. Sie ist nicht aus den wechselnden Naturgesetzen der Ökonomie zu legitimieren. Für die neuliberalen Grünen ist übrigens die Prioritätensetzung klar: ,,Die sozial gerechte Absicherung von Risiken darf nicht dazu führen, daß die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gefährdet wird.“ Hinsichtlich der Angebotsseite müßten nun die Grünen klären, welche konkreten Maßnahmen sie im Auge haben. Man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß angebotspolitische Instrumente, zumal wenn sie den Arbeitsmarkt betreffen, zu einer Schlechterstellung von Teilen der ohnehin wenig privilegierten Schichten in der Gesellschaft führen.
Die SPD stellt nicht zuletzt deswegen den neuen Bundeskanzler, weil Gerhard Schröder die Fähigkeit zugeschrieben wird, schmerzhafte angebotsseitige Eingriffe sozial gerecht umzusetzen. Bodo Hombach hat diese Strategie als „Angebotspolitik von links“ bezeichnet. Hier liegt eines der entscheidenden Felder, in dem sich die neue Regierung beweisen muß, wenn sie ihr Hauptziel, den Abbau der Massenarbeitslosigkeit, erreichen will. Um so hilfreicher wäre es, wenn auch die grünen Wirtschaftspolitiker sich dieser Thematik annehmen würden, um wenigstens innerhalb der Regierung eine breite Übereinstimmung zu erreichen.
Denn daß die Grünen in ihrer neuen wirtschaftsliberalen Haltung offenbar begeistert bereit sind, soziale Härten in Kauf zu nehmen, zeigen ihre Vorstellungen zur Gegenfinanzierung der geforderten Unternehmenssteuerreform: Der haushaltspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Oswald Metzger, fordert in der FAZ, alles müsse auf den Prüfstand, ohne Ausnahme, alle Subventionen und Sozialausgaben. Auch hier bewegen sich die Grünen voll im Mainstream der herrschenden ökonomischen Theorie.
Doch was heißt das? Die entscheidende Frage ist, wie die aktuellen Auswirkungen eines radikalen Subventionsabbaus aussehen würden. Dieses Problem braucht die Wissenschaft in ihrer Modellwelt nicht zu berücksichtigen, eine Regierungspartei muß sich diese Frage stellen. Subventionsabbau kann nur im Rahmen eines mittelfristig angelegten Programms zur Umstrukturierung erfolgen. Es ist richtig, daß Kapital durch Subventionen in unproduktiven Sektoren gehalten, eine optimale Kapitalallokation damit verhindert wird. Richtig ist aber auch, daß sich die Lebensverhältnisse der Menschen nicht schlagartig an neue, effiziente Produktionsverfahren anpassen. Den Werftarbeitern in Kiel ist nicht damit geholfen, wenn das frei werdende Kapital einer angeblich „produktiveren“ Verwendung in der Tschechischen Republik zufließt. Und oftmals hängen an den alten Industrien ganze Regionen mit Zulieferern und Dienstleistern, die ebenfalls betroffen wären.
Für vernünftigen Subventionsabbau unter Berücksichtigung der sozialen Folgen ist die zeitlich degressive Gestaltung der Kohleförderung in Deutschland ein gutes Beispiel. Zu einer realistischen wirtschaftspolitischen Linie sollte gehören, daß die Gegenfinanzierung ungefähr mit den geforderten Entlastungen für die Unternehmen übereinstimmt. Nimmt man zur geplanten Unternehmenssteuerreform, das strukturelle Haushaltsdefizit, das die alte Regierung hinterlassen hat, sowie die Umsetzung der Karlsruher Familienbeschlüsse, dann ist es schwer vorstellbar, daß „Entbürokratisierung“ und „Subventionsabbau“ diese Lücken füllen könnten. Zumal dann, wenn Oswald Metzger zusätzlich noch verlangt, von der hohen Staatsquote herunterzukommen, und gleichzeitig neue Subventionen im Energiesektor gefordert werden.
Eine „spekulative Lücke“ im Sinne der sogenannten „Lafferkurve“, wie Wirtschaftsminister Werner Müller sie für vorstellbar hält, ist dabei ebenfalls ein schwieriger Ansatz, da die aus der geplanten Unternehmenssteuerreform resultierenden Mehreinnahmen mit einer nicht exakt vorhersehbaren zeitlichen Verzögerung eintreten. Zur Überbrückung dieser Zeit bliebe nur die weitere Neuverschuldung wie seinerzeit in den USA, die aus geldpolitischer Sicht jedoch nicht wünschenswert sein kann. Gleichzeitig die Senkung der Staatsquote in Angriff nehmen zu wollen, erscheint ausgeschlossen.
Die wirtschaftspolitische Strategie einer Regierungspartei sollte der Komplexität unserer Gesellschaft Rechnung tragen. Wenn eine Partei, die oftmals utopische Ziele verfolgte, dabei gelernt hat, auf ökonomische Zwänge Rücksicht zu nehmen, so ist das hilfreich. Wenn jedoch – Herr Lehrer, ich weiß was! – neoliberale Schlagworte aneinandergereiht werden, wenn Unternehmensinteressen zum Fixpunkt und das Gemeinwohl zur abgeleiteten Größe werden, dann nimmt diese Partei eine Position ein, die in unserem Parteiensystem durchaus nachgefragt ist, Größenordnung vier bis sieben Prozent. Sie wird gegenwärtig von der Freien Demokratischen Partei besetzt. Mit der FDP ist die SPD vor dreißig Jahren eine Koalition auf Bundesebene eingegangen. Das ging auch. Es ginge auch jetzt. Aber wozu? Wir haben ja die neuen Grünen.