Rede von Hans-Peter Bartels vor dem Deutschen Bundestag am 23.04.2015 zur Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE: Krieg in Afghanistan – Eine Bilanz

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach 4 756 Tagen ist am 31. Dezember 2014 die ISAF- Mission in Afghanistan zu Ende gegangen. Das ist noch nicht das Ende des Engagements der internationalen Gemeinschaft, auch nicht das Ende des militärischen Engagements. Wir haben eine Nachfolgemission, Resolute Support, die noch eine Weile im Land sein wird.

Insofern geht es hier heute nicht um eine Bilanz, sondern um eine Zwischenbilanz. Aber es ist gut, dass wir uns als Bundestag mit diesem Thema beschäftigen. Das tun wir aber nicht zum ersten Mal, sondern das tun wir natürlich auch anhand der Fortschrittsberichte der Bundesregierung. Das tun wir anhand von Studien, die uns wissenschaftliche Institutionen vorlegen.

Ich hatte heute die Gelegenheit, ein Buch vorzustellen, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben worden ist. Autoren dieses Buches sind General Rainer Glatz und Rolf Tophoven. Glatz war lange Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr und hat unmittelbar nach seiner Pensionierung angefangen, Bilanz zu ziehen. Das ist vorbildlich. Das ist genau das, was wir wollen: dass diejenigen, die zuständig waren, diejenigen, die Erfahrungen haben, diese Erfahrungen auch vermitteln und auswerten, sodass wir wieder damit arbeiten können. Auch das ist ein Stück Zwischenbilanz.

Was wir irgendwann einmal brauchen, ist die wissenschaftliche Aufarbeitung im Auftrag der Bundesregierung oder des Bundestages, die übrigens unsere Fraktion einmal 2010 gefordert hat. Aber das Ganze ist ja auch noch nicht zu Ende. Wir wollen, dass wir aus dem Auslandseinsatz in Afghanistan wie aus anderen Einsätzen lernen. Aber dies ist ein besonders langer Einsatz. Ich glaube, es gibt einige Lessons learned, über die man heute hier schon reden kann.

Ich will drei Stichworte sagen:

Erstens: die Internationalität. In Deutschland glauben wir gelegentlich, dass an einzelnen Entscheidungen, die unsere Bundesregierung dem Bundestag zum Beschluss vorlegt, das Wohl und Wehe Afghanistans hänge. Realität ist: Wir waren bei ISAF eine von 50 truppenstellenden Nationen. Als die USA 100 000 Soldaten im Land stationiert hatten, waren es seitens der Bundeswehr 5 000. Wir entscheiden dort nichts allein.

Zweitens. Es gab viele, vielleicht zu viele Akteure, zu viele Strategien und zu wenig Koordination. Eine Lektion für künftige Stabilisierungseinsätze könnte lauten: Wir brauchen eine Art ziviler Hochkommissar mit umfassenden Kompetenzen.

Drittens. Es ist in Afghanistan zu viel Zeit ungenutzt verstrichen, gerade zu Beginn; da stimme ich dem Kollegen Nouripour zu. Bei Stabilisierungsmissionen muss am Anfang die militärische Komponente besonders stark sein. Die zivile Hilfe braucht dann deutlich mehr Vorlauf, bis sie sich positiv auswirken kann.

Wir haben erlebt, wie sich über mehr als ein Jahrzehnt die Bundeswehr verändert hat. Über die Zeit haben gut 100 000 Deutsche als Soldatinnen und Soldaten in unseren Einsatzkontingenten für Afghanistan Dienst getan. Sie stützen sich auf eine andere Ausbildung und bringen andere Erfahrungen mit nach Hause, als es sie in der alten Bundeswehr gab, auch komplexe Gefechtserfahrungen. Die Ausrüstung hat sich – Stichwort „einsatzbedingter Sofortbedarf“ – radikal verändert. Das neue Gerät heißt zum Beispiel Dingo, Fennek, Boxer, Eagle, Enok, Heron, Tiger und NH90. Das alles gab es schon im Einsatz, bevor die Ausbildung damit zu Hause richtig beginnen konnte – einerseits gut, andererseits schlecht.

In Deutschland, aber wohl auch in den USA und in der NATO sind wir uns überwiegend einig darüber, dass Afghanistan kein Modell, keine Blaupause für andere Missionen sein kann. Jede Krise ist anders, und in dieser Krise haben wir, das heißt die internationale Gemeinschaft, viel Lehrgeld gezahlt. Damit das nicht verloren ist, müssen wir dann aber auch die entsprechenden Lehren daraus ziehen und annehmen.

Suzana Lipovac, die das erste zivil-militärische Projekt im Kosovo betreute und seit Anbeginn für die Organisation Kinderberg in Afghanistan engagiert ist, formuliert ihr Fazit so:

Die zukünftigen Auslandseinsätze der Bundeswehr, auch unter einem robusten UN-Mandat, können nur dann gesellschaftlich akzeptiert werden, wenn sie zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebenssituation der Zivilgesellschaft und der Sicherheitslage im Einsatzland, der Region und auch der Welt führen. Das ist nur durch die Kooperation aller diplomatischen, entwicklungspolitischen, zivilgesellschaftlichen, polizeilichen und militärischen Ak- teure erreichbar. Hier bestehen das größte Defizit und gleichzeitig das stärkste Verbesserungspotenzial. Als Hilfsorganisation versuchen wir zwar, mittels der Projekte präventiv gegen die Ursachen von gewalttätigen Konflikten vorzugehen, aber man er- kennt leidvoll, dass man keinen Menschen oder gar sich selbst vor radikalisierter bewaffneter Gewalt bewahren kann. Als Zivilist ist man nicht in der Lage, einer terrorisierten Bevölkerung das zu geben, was sie als das Dringendste im Wesentlichen benennt: Sicherheit.

Dafür brauchen wir den Einsatz von Soldaten, und zwar so lange, wie er erforderlich ist.

Ein langer Atem, strategische Geduld – das muss auch für das internationale Engagement in Afghanistan gelten. Der Irak und Libyen sind da keine Vorbilder. Ziel bleibt immer, dass es ohne fremde Soldaten geht. Für so eine Zukunft, für diese Vision haben Soldaten, Entwicklungshelfer, Polizisten, Diplomaten, auch Journalisten aus vielen Ländern Opfer gebracht. Sie dürfen nicht umsonst gewesen sein.

Vielen Dank.

 

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN)