Vorschlag für eine Einführung in das neue SPD-Grundsatzprogramm.

Unsere Zeit steckt, mit einem Wort von Willy Brandt, der über ein Vierteljahrhundert die SPD geführt hat, voller Möglichkeiten – zum Guten wie zum Bösen. Brandt selbst, vor Beginn des Ersten Weltkrieges geboren, erlebte das Scheitern der Weimarer Demokratie, nationalsozialistische Terrorherrschaft, Verfolgung und Exil, den Zweiten Weltkrieg, den sozialen, wirtschaftlichen und demokratischen Wiederaufbau im Westen und die kommunistische Diktatur im Osten Berlins, Deutschlands und Europas, den Kalten Krieg und dessen Ende, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, den Beginn der Einigung ganz Europas – und zugleich die Vertiefung der Teilung unserer Welt in Arm und Reich, Hoffnungslosigkeit und Ãœberfluß.

Sozialdemokraten wissen, dass es keine vollkommene menschliche Einrichtung gibt, keinen vollkommenen Markt, kein perfektes Regierungssystem, keinen allmächtigen guten Staat, keine vollkommene Gesellschaft. Wir Menschen sind aus krummem Holz gemacht. Wir können einander helfen, in Freiheit unser Glück zu suchen. Aufgabe des Staates aber sollte sein, vermeidbares Unglück, Elend, Not und Ungerechtigkeit zu verhindern. Politik ist nicht alles, aber ihr Primat demokratischer Selbstbestimmung gilt gegenüber allen scheinbaren Sachzwängen technischer oder ökonomischer Rationalität, gegenüber religiösem Fanatismus wie gegenüber dem angemaßten Recht des Stärkeren.

Vier große gesellschaftliche Bewegungen, teils vertraut, teils neu entstanden, kennzeichnen unsere Zeit am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Die treibende Kraft des technischen Fortschritts schafft uns neue Möglichkeiten, die Lebensbedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung umfassend zu befriedigen. Um die natürlichen Grundlagen für das Wachstum des Wohlstandes, das wir wollen, zu schonen und zu erhalten, muss der Fortschritt eine neue Richtung haben: Wissenschaft und Technik müssen helfen, Energie effizienter einzusetzen und auf regerenative Quellen umzusteuern, Ressourcen sparsamer zu verbrauchen und Stoffkreisläufe aufzubauen, schließlich schädliche Abgase, Abwässer und Abfälle drastisch zu verringern. Neue Werkstoffe und Produktionsverfahren, Nano-, Bio- und Computertechnik können die Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung bilden. Zu dieser ökologischen Modernisierung – statt „viel hilft viel“ heißt es jetzt „aus weniger mehr machen“ – gibt es keine verantwortbare Alternative. Sie ist für uns überlebensnotwendig.

Seit der große Systemkonflikt, die atomare Konfrontation der Supermächte und Blöcke der Vergangenheit angehört, ist der Kapitalismus weltweit wie entfesselt. Seinem Streben nach einem Markt ohne Regeln, der beschleunigten Entkopplung von Realwirtschaft und spekulativen Gewinnchancen, der unkontrollierten Machtkonzentration bei globalen Wirtschaftsunternehmen, dem Ruf nach immer mehr Flexibilisierung und Entstaatlichung tritt bisher noch keine starke, ordnende Weltinnenpolitik entgegen. Noch drücken die Zumutungen ungleicher Konkurrenz auf Wohlstand, Arbeitsplätze und Sozialstaatlichkeit vieler Länder. Die Globalisierung menschenwürdig, das heißt, sozial und demokratisch zu gestalten, ist deshalb unsere Aufgabe in der deutschen Sozialdemokratie, in Europa und in der Weltgemeinschaft. Dazu gehört, gemeinsam die Freiheit zu hüten und den Frieden zu wahren, auch wo nicht-staatliche Gewalt die Menschen bedrängt, und vor schreiendem Unrecht, auch in entfernten Weltregionen, nicht die Augen zu verschließen. Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und des Weltmarktes ist heute keine Utopie mehr, sondern sie ist möglich geworden, wenn wir es wollen. Und wir wollen unser altes internationalistisches Ziel über Kontinente, Länder-, Religions- und Völkergrenzen hinweg bald solidarisch erreichen.

Wo Grenzen aller Art und alte Sicherheiten verschwinden, in einer Welt, in der die – jedenfalls technische – Chance besteht, daß beinah jeder mit jedem in Kontakt tritt, und in der die Zahl der erreichbaren individuellen Lebensentwürfe größer ist als jemals zuvor, wird Identität zu einem kostbaren Gut. Die Erfahrung lehrt, daß unsere Identitätssuche, wenn zu viele Wurzeln in der Luft hängen, schändlich mißbraucht werden kann. Freiheit ist immer dann flüchtig, wenn sie keine Bindung an einen wertvollen Sinn, keine Beziehung zu anderen Menschen hat. Dabei sind Werte nicht beliebig. Wir folgen nicht dem monströsen Ideal des vereinzelten, heimatlosen, Individuums, dessen Lebenszweck allein in der Mehrung seines eigenen Nutzens besteht. Wäre dies die Essenz menschlichen Zusammenlebens – unsere Gesellschaft wäre längst erfroren. Wir brauchen die Gemeinschaft in unseren Familien und Nachbarschaften, in der Gemeinde, im Verein und im Freundeskreis. Ohne die Sorge um und für andere können und wollen wir nicht leben. Wo die Freiheit, sich zu binden und zu engagieren, durch ökonomische und andere Zwänge bedroht wird, müssen wir eine Politik zum Schutz unserer sozialen Umwelt dagegensetzen. Das langsame, tatsächliche, tägliche Leben bleibt der Maßstab. Kein Jugendlicher wird schneller groß, wenn er im Internet mit größerer Rasanz von Seite zu Seite springen kann. Erziehung zu einem guten Leben braucht Anstrengung, Geduld und Liebe. Und nichts ist dabei wertvoller als das ruhige Vorbild der Erzieher.

Große Veränderungen bringen der deutschen und vielen anderen europäischen Gesellschaften die Folgen des sogenannten demographischen Wandels, des absehbaren Schrumpfens der Bevölkerungszahl durch dauerhaftes Absinken der Geburtenrate auf deutlich unter zwei Kinder je zwei Erwachsene. Gleichzeitig wächst die Lebenserwartung. Indem die Bevölkerungspyramide sich umkehrt, verliert der „Generationenvertrag“ für die soziale Sicherheit im Alter, bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit seine Grundlage. Das Sozialversicherungsprinzip mit Beiträgen auf den Faktor Arbeit kann nicht mehr funktionieren, wenn immer weniger Menschen arbeiten, aber immer mehr alt, krank und pflegebedürftig sind. Deshalb muß einerseits die Finanzierung auf eine breitere Grundlage, insbesondere aus Steuermitteln, gestellt und andererseits der Leistungsumfang überprüft werden. Jedem muß klar sein, daß bei steigender Lebenserwartung die Lebensarbeitszeit nicht immer kürzer werden kann, sondern im Gegenteil länger. Da Einwanderung unsere Probleme nicht lösen, sondern bestenfalls mildern wird, haben wir Antworten auf die historisch völlig neue Frage zu finden, wie Wohlstand und soziale Sicherheit in einer schrumpfenden Gesellschaft möglich sein können. Gleichzeitig aber müssen wir beginnen, den Trend der negativen Bevölkerungsentwicklung umzukehren durch eine Politik, die Deutschland familienfreundlicher macht, durch bessere Möglichkeiten, Familie und Beruf für Frauen und Männer zu verbinden, durch ein gesellschaftliches Klima, in dem Kinder nicht als unmoderne Flexibilitätsbremse ihrer Eltern gelten.

Bei allen Fortschritten durch Technik, Globalisierung und Wertewandel: Die einzige Vorsorge für die Zukunft sind und bleiben Kinder, die, wenn wir alt sind, erst erarbeiten, was dann verteilt werden kann. Sie wachsen in eine gerechte Gesellschaft hinein, wenn die sozialen Lasten für sie genauso erträglich sind wie für die Generation ihrer Eltern, und wenn jede und jeder unabhängig von ihrer Herkunft die gleiche Chance bekommen, ihren Platz durch Bildung und Leistung zu finden und ihr Leben selbst zu bestimmen. Auf dem Weg zur freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, die wir Sozialdemokraten erstreben, werden wir niemanden überfordern und dürfen wir niemanden zurücklassen.