Interessenvertretung ohne Legitimation hat Hochkonjunktur

In der Grundausbildung der Bundeswehr lernt man ziemlich zu Anfang, welche Arten von Vorgesetzten es gibt, damit alles seine Ordnung hat und jeder seinen Platz kennt. Ein einziger Typus aber kommt quer und auf ganz seltsame Weise zu seinem Amt: Es ist der Vorgesetzte auf Grund eigener Erklärung. Die Erklärung lautet: «Alles hört auf mein Kommando!» Dieses Kommando eröffnet im Ernstfall einen Notausgang, der nur benutzt werden darf, wenn die alte Struktur zerschlagen, die legitimen Truppenführer tot, verwundet oder verschollen sind, wenn eine neu zusammengewürfelte Gruppe von Menschen unter grossem Zeitdruck handeln muss, um sich oder andere zu retten. Was den selbst ernannten Vorgesetzten legitimiert, sind die Evidenz der Notsituation und seine eigene Tatkraft.

Bekenntnis zu Ehrgeiz und Karriere

In jeder normalen Situation wäre die todernste «Alles hört auf mein Kommando»-Pose lächerlich, peinlich. Wir akzeptieren in allen gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen nur Dienststellung und Ausbildung, erwiesene Kompetenz, Verantwortung für das eigene Vermögen und Wahl. Schon wer sich zur Wahl stellt, steht unter mildem Peinlichkeitsdruck. Viele kandidieren niemals für irgendeine Wahlfunktion, weil es ihnen unangenehm wäre, sich in den Vordergrund zu spielen (oder sich vom Wohlwollen anderer abhängig zu machen).

Vor anderthalb Jahrzehnten war es bei den Jungsozialisten in der SPD noch gängige Praxis, dass Bewerber für höhere Ämter sich von der Basis stundenlang zu ihren Motiven und Zielen kritisch befragen lassen mussten. Der Generalverdacht in diesen Zeiten der Skepsis den Institutionen gegenüber lautete: Ehrgeiz und Karrierismus. Inzwischen ist Karriere kein Schimpfwort mehr, sondern die übliche Auskunft gut ausgebildeter junger Leute, wenn sie von ihrer Zukunft reden. So sagen es die Medien, so spricht es die Zielgruppe in die Mikrophone der Umfragefahnder. Sie würden soziale Ungleichheit zu ihrem Nachteil wohl nicht gerne akzeptieren – aber sich selbst sehen sie schon eher oben.

Peinlich ist es kaum noch jemandem, von sich in einer Weise zu reden, wie eigentlich nur andere über einen sprechen können. Ja, man ist ehrgeizig. Ja, die Partei gibt an, sie wolle ihr Profil schärfen. Ja, dem Künstler ist sein Image wichtig. Ja, das Unternehmen muss noch viel ertragsstärker werden. Das sind individuelle und kollektive Sprechblasen der Ich-Gesellschaft, die nur im jeweils Eigenen das Wahre erkennen will.

Selbst ernannte und gewählte Repräsentanten

Dazu passt eine neue Art der Interessenvertretung auf Grund eigener Erklärung. Greenpeace ist so ein zeitgeistiger Interessenagent – kein starker Verband mit Mitgliedermassen, tausendfältigen Aktivitäten an der Basis und einer demokratischen Willensbildung von unten nach oben wie etwa der Bund für Umwelt und Naturschutz, sondern eine professionelle PR-Agentur (60 Prozent der Jugendlichen haben Vertrauen zu ihr) mit angeschlossenem, steuerbegünstigtem Förderverein fürs Spendeninkasso.

Ein anderes Beispiel ist die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, deren Erfinder neuerdings in Talkshows und auf jedem «Generationen»- und Rentenpodium von Parteien und Verbänden im Namen der jungen Generation seine vulgär-liberalen Ansichten über die Ausplünderung der Jugend durch die Alten zum Besten gibt. Das scheinbar Unparteiische, Ãœberparteiliche dieser «originellen» Stiftungsidee kommt bei den älteren Medien- und Politmenschen, von Focus bis zur Herrhausen-Stiftung, gut an, besser als der Bundesjugendring, die Junge Union oder die DGB-Jugend. Es mag ein gewisser Ãœberdruss der politischen Öffentlichkeit an sich selbst sein, der die Massstäbe verzerrt. Der authentische Interessenvertreter, der gewählte Repräsentant gilt den gelangweilten Mitgliedern der «chattering class», der schwatzenden Klasse, wenig – oder eben genau so viel wie der, der nur behauptet, als Einzelner für viele zu stehen und an ihrer Stelle zu sprechen.

Wer sich selbst beauftragt, hat schnell einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den auf altmodische Weise demokratisch bestimmten Verbands- und Parteifunktionären oder den Wissenschaftern, die abwägen müssen, was sie gegenüber ihren Mitgliedern oder Fachkollegen verantworten und wie sie es ausdrücken können. Der Selbsternannte glänzt durch steile Ansichten, spektakuläre Forderungen und Aktionen, die dem Interesse der Öffentlichkeit nach Neuem und Aufregendem nachkommen. Er ist niemandem rechenschaftspflichtig, niemandem verantwortlich, nicht abwählbar.

Durch seine öffentlichen Aufmerksamkeitserfolge entwertet er aber sukzessive jene unendliche Mühe, die Aufbau und Erhalt einer Selbstorganisation Gleichgesinnter oder Gleichinteressierter bedeutet. Aus diesen zig Millionen sich selbst organisierender Menschen in Kirchen, Sportvereinen, Arbeiterwohlfahrt und Rotem Kreuz, Junger Presse und Karnevalsgesellschaft, Parteien und Gewerkschaften, Kleingartenvereinen und Umweltverbänden, Arbeitgebervereinigung und Kreishandwerkerschaft setzt sich unsere plurale Bürgergesellschaft zusammen. Dies ist der Zusammenhalt aktiven bürgerlichen Engagements, den viele der gutwilligen Teilnehmer unserer politischen Öffentlichkeit immer so vehement beschwören und fordern, als müsse er erst erfunden werden. Bestünde zwischen Staat und Privat die Bürgergesellschaft ganz aus selbst ernannten Interessenvertretern, es wäre jämmerlich um unsere Demokratie bestellt.