Rede von Hans-Peter Bartels vor dem Deutschen Bundestag am 26. Oktober 2006

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte Weißbuch, erschienen vor zwölf Jahren, war eine Momentaufnahme kurz nach dem Ende des Kalten Krieges. Eine neue Standortbestimmung ist also lange überfällig.

Die Einsicht in die neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen bestimmt allerdings schon länger unser Handeln. Mit dem Weißbuch liegt nun – so könnte man sagen – ein regierungsamtlicher intellektueller Überbau vor. Der Bundesregierung, den Ministern Jung und Steinmeier, sei gedankt. Sie haben gute Arbeit abgeliefert.

Vielleicht sollten wir allerdings, wenn wir heute auf die nunmehr zehn vorliegenden Weißbücher blicken, uns für die Zukunft vornehmen, diese sicherheitspolitische Standortbestimmung künftig etwas regelmäßiger vorzunehmen. Nach der ersten Ausgabe 1969 erschienen die Weißbücher zunächst nahezu jährlich. Dann wurden die Abstände Ende der 70er-Jahre größer. Auf Nummer fünf im Jahre 1975 folgte die Neufassung erst vier Jahre später, also 1979. In den 80er-Jahren erschienen zwei Weißbücher. Dann dauerte es weitere neun Jahre bis 1994. Jetzt beträgt der Abstand zwölf Jahre.

Ich will diese Reihe nicht fortsetzen; das ist etwas für Mathematiker.

(Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN)

Ich will auch nicht anregen, dass wir zur jährlichen Erscheinungsweise der Anfangsjahre zurückkehren. Aber ein Weißbuch pro Wahlperiode wäre schon gut und wäre der Bedeutung des Themas angemessen.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])

Ich hoffe, wir sind uns in diesem Haus einig, so zu verfahren.

(Jörg van Essen [FDP]: Ja!)

Was die Inhalte angeht, haben meine Vorredner schon einiges gesagt. Das Weißbuch ist nicht, wie Renate Künast vorhin gesagt hat und wie sie gemeinsam mit Winfried Nachtwei in einem Beitrag für die „Welt am Sonntag“ geschrieben hat, „der kleinste gemeinsame Nenner“. Es ist vielmehr das Dokument eines großen Konsenses.

Positiv hervorzuheben – und vermutlich auch für Grüne zustimmungsfähig, Frau Künast – ist doch zum Beispiel das klare Bekenntnis zu einem umfassenden, nicht aufs Militärische beschränkten Sicherheitsbegriff, der sich wie ein roter, grüner und jetzt auch schwarzer Faden durch den Gesamttext zieht. Das ist doch Kontinuität zur Regierung Schröder/Fischer.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der gemeinsame Nenner von Rot-Grün wird auch in der neuen Koalition bewahrt.

Unstrittig ist auch das Bekenntnis zu einem aktiven Multilateralismus, zu einer Stärkung des Völkerrechts und zu den Systemen kollektiver Sicherheit: UNO, NATO, EU.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist allerdings keine Erfindung von Rot-Grün!)

Dabei kommt es nicht auf die Reihenfolge im Weißbuch an. Die NATO, die an erster Stelle steht, ist uns ein alter, lieber Vertrauter. Das neue Kind EU – genauer: die ESVP – braucht da noch mehr Beachtung und Pflege. Wir Sozialdemokraten wollen künftig mehr Europa, mehr gemeinsame Streitkräfteplanung, mehr Arbeitsteilung, bessere Kooperation bei der Ausrüstung und bei der Industriezusammenarbeit.

Ausdrücklich begrüße ich die eindeutige Festlegung auf dieWehrpflichtarmee. „Die Wehrpflicht“, so heißt es im Weißbuch, „hat sich auch unter wechselnden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen uneingeschränkt bewährt.“ So ist es. Sie ist eben nicht – wie von Liberalen und Grünen gern suggeriert – die Wehrform für eine bestimmte Konfliktlage, nämlich für den Kalten Krieg, gewesen, sondern die Wehrform auch für die Bedrohungslage, in der wir uns heute befinden. Das gilt für die Bundeswehr von heute und für die Bundeswehr der Zukunft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Besser gelungen, als manche Diskussion im Vorfeld vielleicht vermuten ließ, ist die Definition unserer Interessen. In der Vergangenheit ist immer wieder gefordert worden, Deutschland möge endlich seine nationalen Interessen definieren. Mir persönlich blieb dabei oft unklar, was unsere spezifisch deutschen, nationalen Interessen sein sollen. Rohstoffversorgung? Stabilität im Nahen Osten? Terrorbekämpfung? Verhinderung der Proliferation? Das sind allesamt politische Ziele, die wir mit unseren NATO- und EU-Partnern teilen. Das sind keine spezifisch deutschen Interessen. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich sehen sich alle Länder in Europa und darüber hinaus den gleichen Bedrohungen ausgesetzt. Wir sind aufeinander angewiesen, um mögliche Gefahren abwehren zu können.

Was im Weißbuch nun formuliert worden ist, sind im besten Sinne europäische, westlich-demokratische Interessen, sachlich und nüchtern auf den Punkt gebracht, Bezug nehmend auf die Werte des Grundgesetzes, ohne falsches Pathos. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, als die Staaten Europas rivalisierende Interessen gegeneinander, auch mit dem Mittel des Krieges, durchsetzen wollten. Das ist kein ganz kleiner Fortschritt. Es geht nicht darum, uns einen „Platz an der Sonne“ zu erkämpfen, nicht in Afghanistan, nicht auf dem Balkan, nicht im Kongo. Es geht vielmehr um die Herstellung und den Erhalt des Friedens weltweit.

(Beifall bei der SPD)

Dieser Auftrag ergibt sich aus dem Grundgesetz. In Art. 24 – ich empfehle, gelegentlich nachzulesen – ist unsere Verpflichtung zum Frieden und zur Herstellung von Verhältnissen der gerechten Teilhabe aller in dieser Welt verankert. Sehr richtig ist deshalb auch der Hinweis des Weißbuches, dass Interessen im Zeitalter der Globalisierung nicht allein geografisch definiert werden können.

Zum Einsatz der Bundeswehr im Innern. Das ist wohl das im Vorfeld am ausführlichsten diskutierte Thema des Weißbuchs gewesen. Mancher Diskutant hat sich in den zurückliegenden Wochen gerne als Tabubrecher inszeniert, wenn es um Bundeswehr und innere Sicherheit ging. Dabei ist das Thema gar nicht so neu. Vor fast 40 Jahren sind Verfahren gefunden worden, die den Grundsatz der Trennung von Polizei und Militär zwar nicht aufweichen, die den Einsatz der Bundeswehr im Inland aber in bestimmten Worst-Case-Szenarien ermöglichen, wenn nämlich die demokratische Grundordnung oder der Bestand des ganzen Landes in Gefahr ist.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Notstandsgesetze!)

Diese im Grundgesetz vorgesehenen Notstandsregelungen sind geltendes Recht, auch wenn sie glücklicherweise bisher noch nie zur Anwendung gekommen sind. Sie stehen im Grundgesetz.

Die Amtshilfe der Bundeswehr gemäß den Bestimmungen des Art. 35 ist unstrittige, geübte Praxis, die sich bei zahlreichen Ereignissen der vergangenen Jahre bewährt hat. Dass wir eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Klarstellung brauchen, um terroristischen Bedrohungen aus der Luft und von der See her besser begegnen zu können, hat die SPD nie bestritten.

(Birgit Homburger [FDP]: Das ist neu!)

Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, haben wir zunächst das Verfassungsgerichtsurteil abgewartet. Das liegt nun vor. Karlsruhe hat uns für künftige Regelungen enge Grenzen gesetzt. Die im Weißbuch angedeutete Möglichkeit, den Art. 35 zu ändern, ist ein denkbarer Weg, um die notwendigen Neuregelungen im Bereich der Luft- und Seesicherheit im Grundgesetz zu verankern.

Jenseits dieser klar definierten Ausnahmen bleiben die Hürden für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern hoch. So sollte es auch sein, sind Polizeiaufgaben doch zu allererst Aufgabe der Polizei und nicht des Militärs.

(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]:Sehr richtig!)

Zur nuklearen Teilhabe. Es ist bemerkenswert, dass im Weißbuch formuliert wird:

Für die überschaubare Zukunft wird eine glaubhafte Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses neben konventioneller weiterhin auch nuklearer Mittel bedürfen.

Das kann man mit guten Gründen anders sehen. Letztlich ist die nukleare Teilhabe ein Kind der Flexible- Response-Strategie der NATO in den späten 60er-Jahren. Das war die Antwort auf einen waffenstarrenden Warschauer Pakt. Der aber ist seit rund anderthalb Jahrzehnten ein Fall für Historiker.

Den neuen Bedrohungen unserer Sicherheit, die in dem Weißbuch sehr richtig beschrieben sind, lässt sich mit Atombomben nicht mehr begegnen. Und doch stehen weiterhin nuklearfähige Tornados der Bundeswehr bereit, US-Atomwaffen ins Ziel zu fliegen. Aber wohin? Die politische Begründung wird zunehmend notleidend. Mit dieser Aussage des Weißbuchs werden wir uns, so denke ich, in der „überschaubaren Zukunft“ befassen.

Eine letzte Bemerkung zur Parlamentsarmee. Im Weißbuch verpflichtet sich die Regierung, auch künftig ihren Beitrag dazu zu leisten, dass das Parlament umfassend und frühzeitig informiert wird. Im Lichte der aktuellen Diskussion über den Einsatz von Spezialkräften in Afghanistan werden wir die Regierung beim Wort nehmen.

Es ist schon kurios, wenn Mitglieder dieses Hauses – selbst jene, die dem zuständigen Fachausschuss angehören – aus der Presse erfahren müssen, wann und wo unsere KSK-Soldaten im Einsatz waren und dass sie es in den letzten zwölf Monaten unter OEF-Mandat eben nicht waren.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Geheimnisverrat!)

– Das stand in der Zeitung. Ich glaube, in diesem Fall war es der Minister, der dafür sorgte, dass dieses Geheimnis nicht länger ein Geheimnis blieb; das ist auch richtig. – Dennoch muss man feststellen: Diese Information war bis zu diesem Zeitpunkt als „geheim“ eingestuft. Daher müssen wir über die Frage diskutieren: Welche Informationen sind realistischer- und sinnvollerweise geheim zu halten und welche Informationen gehören in die politische Diskussion?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unsere Maxime muss dabei lauten – dabei handelt es sich um eine alte Formulierung aus dem Godesberger Programm, allerdings um andere Begriffe –: So viel Geheimhaltung wie nötig, so viel Information wie möglich.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])

Die Bundeswehr ist nach unserem Grundgesetz eine Parlamentsarmee. Dies ist nicht nur rechtliche Grundlage, sondern mittlerweile auch gute Tradition und geübte Praxis. Die neue Bundeswehr als Armee im Einsatz ist ohne den Parlamentsvorbehalt undenkbar. Wenn wir im Bundestag Einsätze beschließen und damit die volle politische Verantwortung dafür übernehmen, dann muss die Unterrichtung des Parlaments so vollständig wie möglich sein. Je gefährlicher der Einsatz, desto weniger erfahren wir – so kann, so darf es nicht laufen. Wir werden uns hier um Abhilfe bemühen. Das vorgelegte Weißbuch ist eine gute Grundlage für unseren gemeinsamen weiteren Weg.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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