Als 1993 Björn Engholm vom Amt des SPD-Vorsitzenden zurücktrat und mit ihm auch sein Geschäftsführer Karlheinz Blessing ausschied, war das Projekt „Parteireform – SPD 2000“ erst einmal beendet. Auf die landläufige „Politikverdrossenheit“ – Wort des Jahres 1992 – reagierte die größte der Parteien in den folgenden Jahren nicht mit großen institutionellen Veränderungen, sondern mit immer neuem Spitzenpersonal und mit formalen Gimmicks: konsultative Mitgliederbefragung zur Engholm-Nachfolge; Ad-hoc-Satzungsänderung, um aus der Stimmung einer Nacht heraus in Mannheim den Vorsitzenden Scharping gleich am nächsten Morgen durch einen anderen ersetzen zu können; Einführung des Parteihauptamtes eines Generalsekretärs.
Generalsekretär Franz Müntefering hat nun die Organisations-Debatte wieder aufgenommen. Alle lange umkämpften Personalfragen sind auf absehbare Zeit beantwortet, die SPD regiert, die Union beginnt ihre „Enkel“-Erneuerung – quälend, euphorisch, nach innen gewandt – wie einst die Sozialdemokraten 1983: Jetzt also ist die richtige Zeit für Parteireform und Grundsatzprogramm-Diskussion in der sozialdemokratischen Partei.
Dabei verschweigt Müntefering nicht, dass es ihm nicht allein um scheinbar neutrale „modernere“ Strukturen geht, sondern auch um neues, jüngeres, andersartiges Politikpersonal in Funktionen und Mandaten. „Organisation ist Politik“: So zitiert er Herbert Wehner. Organisationsfragen sind Machtfragen. Die personelle Erneuerung war in der SPD lange behindert durch die Hegemonie der überstarken Siebziger-Jahre-Juso-Generation, der heute 50- bis 60-jährigen, die in Bund und Ländern, in Parlamenten und Regierungen fast vollständig das Bild der Partei prägen.
Müntefering macht konkrete Vorschläge. Sie enden mit einem Knaller, der auch die Hierarchen zur Stellungnahme zwingt, die lieber gar nichts ändern würden: Kandidatenaufstellung durch öffentliche Vorwahlen wie in den USA! Dass das nur ein Signal sein kann, wird den Strategen im Willy-Brandt-Haus klar sein: Vorwahlen machen nur unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrechts Sinn (wir aber haben ein personalisiertes Verhältniswahlrecht); sie wären teuer, weil sie ohne echte Vorwahlkämpfe Neulingen keine Chance gäben; sie haben mit der Tradition unserer Mitgliederparteien (im Unterschied zu den sehr viel schwächeren US-Parteien) rein gar nichts zu tun; und die politische Beteiligung, etwa die Wahlbeteiligung, ist gerade in den USA nicht höher, sondern drastisch niedriger als bei uns. Also: Leuchtrakete mit Geräusch.
Vorsichtig sein sollte die SPD auch mit der schaumschlägerischen Verquirlung aller möglichen Demokratiemodelle. Das repräsentative System ist etwas anderes als das präsidiale, und dieses ist nicht identisch mit der plebiszitären Demokratie. Man kann ein demokratisches Staatswesen so oder so oder so konstruieren. Alles nebeneinander haben zu wollen – direkt gewählte Regierungen, starke Parlamente, Volksabstimmungen: Das geht nicht. Die alles verquirlende Verfassung bringt nicht mehr Demokratie, sondern mehr Verwirrung. Zur Demokratie passt gerade nicht die alte Tonnenideologie – Motto: mehr hilft mehr –, sondern immer noch und immer wieder: mehr Transparenz, Durchschaubarkeit, Zurechenbarkeit von Verantwortung, Einfachheit.
Müntefering hat recht, wenn er auf Bildung setzt und hohe Anforderungen an die Auswahl sozialdemokratischer Mandatsträger stellt. Die Partei kann und sollte systematisch mehr Angebote zur politischen Mitarbeit machen, Mitarbeit nicht irgendwo, sondern in dem seit 137 Jahren auf Engagement, Verantwortung, Verbindlichkeit und gegenseitige Machtkontrolle ausgerichteten Gehäuse der sozialdemokratischen Organisation. Eine Partei, die sich billig machen wollte, würde kaum an Attraktivität nach außen gewinnen, nach innen aber an Bindekraft verlieren. Selbstbewusstsein hilft.
Die Debatte über attraktivere Parteistrukturen ist eröffnet. Dabei können neue Instrumente auch ganz alte sein: zum Beispiel der Übergang von der Delegiertenversammlung zur Versammlung aller Parteimitglieder des Wahlkreises, wenn Kandidaten aufgestellt werden. Ganz neu hingegen wäre die Einführung eines Konkurrenzmechanismus zwischen den einzelnen Gliederungen der SPD selbst: Wenn etwa innerhalb eines Kreisverbandes die Mitglieder sich den Ortsverein, in dem sie auf Dauer mitarbeiten wollen, selbst aussuchen könnten – nach Themenschwerpunkten, Zusammensetzung der Aktivengruppe, persönlicher Ansprache –, müssten die Ortsvereine, bisher streng nach dem Wohnortprinzip voneinander geschieden, in einen Wettbewerb um die eigenen Mitglieder eintreten: Den 750 000 Genossinnen und Genossen würde solches Bemühen vielleicht eher gerecht als der plebiszitäre Primary-Populismus den Nicht-Mitgliedern.