Beitrag von Hans-Peter Bartels in der Tageszeitung "Die Welt" vom 11. Mai 2005

Die neue Kapitalismuskritik ist ganz anders als die alte. „Ausbeutung“ wird akzeptiert. „Entfremdung“ ist kein Thema mehr. „Profit“ muß schon sein. Von der „Expropriation der Expropriateure“ ist nirgendwo die Rede. Nicht die Marktwirtschaft als Organisationsidee steht in Frage, sondern die zunehmende Radikalisierung der kapitalistischen Praxis.

Seit dem Ende des großen Systemkonflikts zwischen kommunistischer Diktatur und liberaler Demokratie, zwischen Kommandowirtschaft und Marktökonomie, seit 1990 führt sich das Kapital tatsächlich immer rabiater als Sieger der Geschichte auf. Der sozialstaatliche Kompromiß – das war einmal. Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftsverbände und Wirtschaftspublizistik propagieren mehr und mehr eine entgrenzte Ökonomie, befreit von den Fesseln der Systemkonkurrenz, der National- wie auch der Sozialstaatlichkeit. Der Mehraufwand einer „sozialen“ Marktwirtschaft wird zum Kostenfaktor, den man sich im härter werdenden globalen Wettbewerb einfach nicht mehr leisten kann, so die inzwischen vorherrschende Meinung.

Dagegen gab es immer Kritik, von der sozialdemokratischen Linken, von Gewerkschaftern, von besorgten Konservativen und auch von Kirchenleuten beider Konfessionen. Ein Interview in der „Taz“ vom 7. Oktober 2004 ist überschrieben: „Die CDU hört auf ein neoliberales Meinungskartell, sagt Heiner Geißler.“ Aber Geißler regt niemanden mehr auf. Müntefering regt auf.

Was ist der Gegenstand der neuen Kritik „Kapitalismus“? Sechs Punkte:

Erstens ist der Führungsanspruch der Ökonomie gegenüber jedem anderen Bereich der Gesellschaft zu kritisieren. Ãœber den Leisten ökonomischer Rationalität (nach der jeweils neuesten Mode) sollen Wissenschaft und Politik, Militär und Medien, Familien- und Gemeindeleben geschlagen werden. Diese wahnhafte Lehre vom Primat der wirtschaftlichen Sphäre ist nicht nur anmaßend, sondern auch dysfunktional. Zu Recht hat schon Schumpeter auf die „außerökonomischen Quellen“ des Kapitalismus verwiesen. Keine Produktion ohne Reproduktion.

Zweitens bedroht der Kreuzzug des politisierenden Kapitals gegen „den Staat“ die Entfaltungsbedingungen einer modernen, global konkurrierenden Wirtschaft selbst. Das neokapitalistische Credo „Je weniger Staat, desto besser“ gründet weniger auf Erfahrung als vielmehr auf einer Uraltideologie. Kooperation und Interdependenz von Staat und Wirtschaft sind nicht das Problem, sondern die Lösung.

Drittens verstört die Maßlosigkeit der Forderungen und Drohungen aus dem Unternehmerlager zusehends das arbeitende und konsumierende deutsche Publikum. Aus der Perspektive der Fonds und Aktiengesellschaften und ihrer Trittbrettfahrer und Berater ist hierzulande noch jeder Lohn zu hoch, jede Arbeitszeit zu kurz, jede Steuer zu drückend, jeder Sozialversicherungsbeitrag eine Strafe, jede Belegschaft zu groß und jede staatliche Regelung eine Sünde wider die Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig wird mit der Verlagerung von Produktion und Gewinnen an sympathischere Standorte im näheren und ferneren Osten gedroht. Zynisch könnte man dazu anmerken, daß in manchen dieser so hoch gelobten Länder auf Steuerhinterziehung für Unternehmer Arbeitslager (in Rußland) und auf Korruption für Manager die Todesstrafe steht (in China), allerdings ohne ein rechtsstaatliches Verfahren.

Viertens könnte man den triumphierenden Wirtschaftseliten, die gegenwärtig so dicke Backen machen, all die Pleiten und Firmentragödien entgegenhalten, die reichlich Belege für die Irrationalitat des entfesselten, spekulativen Kapitalismus liefern: Kirch und Schneider, EM-TV und Mobilcom, Enron und …

Fünftens machen die Bereicherungsexzesse des Managements der deutschen Aktiengesellschaften gar keinen guten Eindruck in Zeiten von Massenentlassungen, von Lohn- und Sozialdumping. Die vier Vorstände der Deutschen Bank etwa verdienten im Jahr 2002 gemeinsam gut sechsmal soviel wie unsere ganze Bundesregierung. Und die 13 Vorstände von Daimler-Chrysler bekamen zur gleichen Zeit soviel wie alle 603 Bundestagsabgeordneten zusammen. Das durchschnittliche Jahresgehalt eines Vorstandsmitglieds in einem der 30 Dax-Unternehmen betrug 2002 (ohne weitere Aufsichtsratsvergütungen, Aktienoptionen und so weiter) das 52fache des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens (26374 Euro), Tendenz stark steigend.

Sechstens haben Arbeitnehmer und Rentner, Arbeitslose und Kranke inzwischen genug an „Vorleistungen“ für die Verbesserung der „Rahmenbedingungen“ unserer krisengeschüttelten Exportweltmeister-Ökonomie erbracht. Jetzt muß, im „Spiegel „-Jargon gesprochen, die Wirtschaft liefern. Bei prächtig aufgeschossenen Gewinnen – die Dax-Unternehmen schütten dieses Jahr 40 Prozent mehr Dividende aus als 2004 – sollten nun neue Arbeitsplätze entstehen und die Reallöhne wieder steigen.

Darum geht es in der neuen Kapitalismusdebatte: um die Rückkehr zu den Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft.

Der Autor ist SPD-Bundestagsabgeordneter. Von ihm erschien kürzlich das Buch „Victory-Kapitalismus. Wie eine Ideologie uns entmündigt“ (Verlag Kiepenheuer und Witsch)