Interview mit Hans-Peter Bartels in den "Stuttgarter Nachrichten - Sonntag aktuell" vom 24. September 2012

Herr Bartels, das Bundesverfassungsgericht dringt auf neues Wahlrecht, seit Jahren gibt es keine Lösung. Was ist Ihr Ziel?

Wir müssen gewährleisten, dass die Wähler das, was sie mit der Zweitstimme wählen, letztlich als Verteilung im Bundestag bekommen. Punkt. Wie wir mit welchen Folgen dahin kommen –  also all das, woran die Bundestagsfraktionen jetzt im Hintergrund arbeiten und sich beraten lassen –  ist höhere Mathematik.

Wird es denn besser, nachdem Karlsruhe so oft einschritt?

Nein. Die deutsche Öffentlichkeit nimmt die Urteile des BVerfG ja gern als objektiv und unangreifbar wahr, obwohl sie manchmal widersprüchlich und abhängig von politischen Mehrheiten innerhalb des Gerichts sind. In der letzten Zeit haben wir öfter auch Korrekturen erlebt, wie zum Beispiel beim Luftsicherheitsgesetz: Die eine Rechtsauffassung des Gerichts wurde wenige Jahre später von einer anderen Rechtsauffassung abgelöst. Oder die Urteile zur Reform des Wahlrechts: Union und FDP haben die Gerichtsentscheidung zum so genannten „negativen Stimmgewicht“ spät und schlecht umgesetzt. Aber dass die Richter bei ihrem Beschluss zu dieser Reform nun plötzlich neue Probleme benennen und neue Maximen aufzeigen, überrascht schon! Bisher waren aus Karlsruher Sicht die Überhangmandate kein Gegenstand, jetzt aber wird ihre Zahl auf 15 beschränkt. Dafür gibt sicher gute politische Gründe, aber dass hier der objektive Geist des Grundgesetzes weht, soll doch niemand behaupten. Warum nicht gleich so, warum nun auf einmal?

Die Zahl 15 wirkt willkürlich, oder haben Sie eine Erklärung für sie?

Es hätten genauso 30 sein können oder 3. Die Zahl 15 ist willkürlich. Aber okay, vielleicht sollte das Gericht gelegentlich einmal erklären, dass auch seine Entscheidungen zeitgebunden sind und dass der Gesetzgeber – also Bundestag und ggf. Bundesrat – auch nicht immer widerspruchloses Recht schaffen kann. Die Umsetzung der Karlsruher Entscheidung zum Wahlrecht wird jedenfalls ganz bestimmt nicht widerspruchsfrei vor sich gehen können. Heute gibt es 24 Überhangmandate, alle CDU/CSU. Einen vollständigen Ausgleich dieser Mandate nach dem Zweitstimmenergebnis und nach der proportionalen regionalen Unterverteilung, also nach Ländern, wird es kaum geben.; dann säßen nämlich statt 620 stattliche 800 Bundestagsabgeordnete im Parlament.  Das kann niemand wollen.

Wenn es die perfekte Lösung nicht gibt, welche schlagen Sie vor?

Ein Verrechnungsmodell, bei dem Ãœberhangmandate in einem Land bei den Listenmandaten derselben Partei in einem anderen Land abgezogen werden. Das ist nicht schön – und nicht gerecht. Aber die Gerichtsentscheidung zwingt uns zu nicht schönen, nicht ganz gerechten Lösungen. Der Ausgleich von kleinsten Verzerrungen führt zu neuen größeren Verzerrungen.

Es gehört zum Charakter des Bundesverfassungsgerichts, dass vom Bürger bis zum Verfassungsorgan jeder bei ihm Klage einreichen kann. Wählen die Richter falsch aus, welche Klage sie letztlich annehmen?

Bei der Prüfung, was wirklich vom höchsten deutschen Gericht entschieden werden sollte, könnte man sicher restriktiver sein. Nicht jedes Mini-Problem, Beispiel: negatives Stimmgewicht, muss mit der Keule „Verfassungswidrigkeit“ bekämpft werden.

Ist unsere Demokratie so stabil, dass die Verfassungsrichter heute mehr durch interessante statt früher mit relevanten Fälle Schlagzeilen machen?

Das Gericht hatte bis hin zu  den Folgen der deutschen Widervereinigung und der Europäischen Einigung eine starke demokratiestabilisierende Bedeutung. Es war zugleich in der Öffentlichkeit zurückhaltender. Heute ist es kein diskretes Bundesorgan mehr; die Richter geben alle Interviews, jeder kann vorher wissen, was sie denken und empfehlen. Das ist fast schon Politikberatung. Gleichzeitig erfahren Öffentlichkeit und Parlament nichts über den Ablauf der Beratungen im Verfassungsgericht. Da gerät etwas aus der Balance.

 

Das Interview führte Claudia Lepping.