Beitrag von Hans-Peter Bartels, MdB in der Tageszeitung "taz" vom 14. November 2000

Werbung im Kinder-TV macht die Programme primitiver und flacher! Das glauben nicht nur öffentlich-rechtliche Programmmacher, sondern auch Vertreter des Kommerzfernsehens – wenn es gerade zu ihren Interessen passt, weil sie selbst nicht auf Werbung angewiesen sind. Hans Seger, Geschäftsführer des Pay-TV-Senders „Disney Channel“ bei Premiere World, sagt in einem Interview mit dem Branchenblatt werben und verkaufen: „Die Marke Disney kann völlig hinter dem Programm stehen, da es werbefrei ist. Free-TV ist immer auch abhängig von den Quotenwünschen und -hoffnungen der Werbekunden.“

Mit Werbung im Kinderfernsehen ist Geld zu verdienen: An die 18 Milliarden Mark besitzen Deutschlands 6- bis 17-Jährige. „Irgendwann geben sie es aus“, wird Hubertus von Lobenstein von der Werbeagentur Saatchi und Saatchi in der Frankfurter Rundschau zitiert. Die heutigen Kids seien „empfänglich für Werbebotschaften, können sich mehr Marken merken als Erwachsene“, und Marken seien auf dem Schulhof heute wichtiger denn je.

So deutlich würde der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft den Wert der Werbung für Kinder nicht zu formulieren wagen. Er erklärt – nach dem Motto: Unsere Kinder sind doch prima medienkompetent – ohne jedes Problembewusstsein: „Kinder sind keine ‚Konsumäffchen’, die sich vor allem über Marken und Labels definieren.“ Fernsehwerbung sei vielmehr eine Art pädagogische Hilfe: „Werbung lehrt Kinder Fähigkeiten, die sie notwendigerweise brauchen, um sich im modernen Marktplatz zurechtzufinden.“

Und die privaten Free-TV-Sender geben sich selbstverständlich ganz empört, wenn die Förderlichkeit ihrer Kinder-Werbesendungen in Frage gestellt wird. Das Bild vom „kleinen willenlosen Konsummonster“, das „vor der bösen Industrie zu schützen sei“, sei einfach falsch, giftet Jan Isenbart, Sprecher des RTL-Vermarkters IP, in werben und verkaufen.

Richtig ist, dass in Deutschland 200 bis 300 Millionen Mark jährlich für spezielle TV-Kinderwerbung ausgegeben werden. Zack-bumm-Sender wie Super-RTL sind existenziell darauf angewiesen. Aber wer ist eigentlich angewiesen auf Super-RTL?

Jugendschutz hat Verfassungsrang. Kindern und Jugendlichen steht „bei der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit“, so hat es das Bundesverfassungsgericht festgestellt, „ein rechtlicher Anspruch auf Schutz und Hilfe seitens des Staates aus Art.1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes zu.“ Dieses Recht hat Vorrang vor jedem Eigentums- und Vermögensinteresse – etwa eines privaten Fernsehsenders oder eines Süßwarenherstellers.

Deshalb heißt es schon jetzt im Rundfunkstaatsvertrag der deutschen Länder: „Sendungen für Kinder dürfen nicht durch Werbung oder Teleshopping unterbrochen werden.“ Zudem stellt die EU-Fernsehrichtlinie eine Reihe inhaltlicher Anforderungen an die Kinderspots: So sollen sie keine direkten Kaufappelle enthalten, nicht das Vertrauen in Eltern und Lehrer ausnutzen und Minderjährige nicht beim Alkoholgenuss darstellen.

Aber werden diese Minimalbeschränkungen dem schutzwürdigen Interesse der Kinder gerecht? Die Autoren des zehnten Kinder- und Jugendberichts, noch von der alten Bundesregierung in Auftrag gegeben und lange zurückgehalten, bezweifeln dies: „Kinder brauchen Werbeschutz“, fordern sie.

Von der rot-grünen Koalition ist nun ein Antrag in den Bundestag eingebracht worden, der sich für ein generelles Werbeverbot im Umfeld von Kindersendungen ausspricht, also nicht nur „Unterbrecher“-Werbung, sondern jede Werbung vor, zwischen oder nach Kindersendungen ausschließen will. Das zu regeln ist zwar nicht Sache des Bundes, sondern der Länder, aber ein solcher Beschluss hätte Signalwirkung – auf die Länder und auf die EU-Ebene.

Das dänische Parlament hat gerade mit sozialliberaler Mehrheit gegen die Konservativen solch ein Reklameverbot beschlossen. In Schweden und Norwegen gilt es schon länger. Eine Übertragung dieser Regelung auf die ganze EU unter schwedischer Ratspräsidentschaft 2001 ist denkbar.

Aber kämpfen die Jugendschützer aller Länder nicht gegen Windmühlen? Wenn die ganze Welt voller Werbung ist, wären die Kinderprogramme in der Tat nur ein kleiner werbefreier Raum. Allerdings nicht der einzige: Auch die Schule hat per Gesetz werbefrei zu sein, aus gutem Grund. Kinder sind Kinder. Sie sind keine kleinen Erwachsenen. Weil sie Kinder sind, haben sie das Recht, erzogen zu werden. Erwachsene – Eltern, Erzieherinnen, Lehrer – müssen entscheiden, was der kindlichen Entwicklung nützt und was ihr schadet. Denn Kinder können noch nicht, vor aller Erfahrung, wissen, was gut für sie ist. Sie lernen es erst. Der geschützte Raum, in dem auf diese Weise selbstbewusste, verantwortliche Persönlichkeiten gebildet werden, heißt Kindheit.

Wozu erzieht Fernsehwerbung im Kinderprogramm? Die Botschaft jedes Werbespots heißt: Kaufen und Haben! Wer erwirbt und besitzt, ist glücklich. Kinderwerbung soll schon die Kleinsten als Konsumenten zurichten. Aufwändig werden Kindern, deren Identität sich doch erst herausbilden muss, Images und Markenidentitäten angeboten. Mit „selbstbestimmter“ Persönlichkeitsentfaltung hat das rein gar nichts zu tun. Wenn der Markendruck zunimmt – wundern wir uns noch, dass auch die Kinderkriminalität steigt? Und was sind die Reklamesendungen für die süße, fettgesättigte Zwischenmahlzeit anderes als ein permanenter Aufruf zur Fehlernährung? Zudem: Wie gut lässt sich in der Videoclipkultur werbefinanzierter Kinderprogramme die Kunst der Konzentration einüben?

Natürlich wirkt Werbung nicht eins zu eins. Aber dürfte man sich keine werbende, wenigstens einen Teil der Kinder tatsächlich beeinflussende Wirkung versprechen, würde keine Firma in die Kinder-Spots investieren. Werbung erzieht mit. Je kleiner die Kinder sind, desto weniger können sie dieser kommerziell-manipulativen Miterziehung selbst ausweichen. Sie haben ein Recht darauf, dass Erwachsene es für sie tun.

Dagegen steht allein das liberale Lamento für die Freiheit noch des kleinsten Konsummenschen, umworben zu werden. Die pädagogischen oder sozialwissenschaftlichen Lakaien der Werbeindustrie sind allerdings schlechte Ratgeber in dieser Sache. Sie hätten uns auch (und ihre Vorgänger haben es getan) erklärt, warum Zigaretten- oder Alkoholwerbung auf keinen Fall beschränkt werden darf. Sie verteidigen die gleiche „Freiheit“, die Unmündigkeit von Kindern auszubeuten, die einst im 19. Jahrhundert auch Kinderarbeit als „normal“ erscheinen ließ.

Die Kindheit als eigenständige Phase der Persönlichkeitsentwicklung, die nicht schon den Verwertungsinteressen der Erwachsenenwelt ausgesetzt sein darf – das war einmal eine Errungenschaft. Diese, nicht die Freiheit der Zurichtung zum Konsum, gilt es zu verteidigen. Also: Kinderwerbung – aus!