Am 5. Dezember hat der Deutsche Bundestag in erster Lesung über den Antrag der Bundesregierung für das ISAF-Nachfolgemandat in Afghanistan („Resolute Support Mission“) beraten. Afghanistan übernimmt mit Beendigung des NATO-geführten ISAF-Einsatzes die alleinige Verantwortung für die Sicherheit seiner Bevölkerung. Gleichwohl wird das Land auch nach Ende des ISAF-Einsatzes die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft benötigen. Ziel der neuen NATO-geführten Mission ist Ausbildung, Beratung und Unterstützung der nationalen afghanischen Sicherheitskräfte. Hans-Peter Bartels, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, war einer der Redner in der Debatte. Hier seine Rede:
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Mandatsdebatte markiert eine Zäsur. Der lange ISAF-Einsatz geht jetzt wirklich zu Ende. Für Afghanistan bedeutet das Jahr 2014 den Beginn einer neuen Ära. Es gab Wahlen und erstmals einen friedlichen Regierungswechsel – keinen einfachen Wechsel, aber einen Wechsel, der die alte Regierung nicht liquidiert oder ins Exil treibt. Der alte Präsident bleibt im Land.
Aus Anlass der heutigen Debatte habe ich mich an einen Artikel erinnert, den Hamid Karzai vor einigen Jahren in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit unter der Überschrift „Ich habe einen Traum“ veröffentlicht hatte. Karzai sagt darin:
Mein Traum ist das Afghanistan meiner Kindheit. Als ich ein Junge war, gab es dieses friedliche Afghanistan. Wir Kinder konnten ohne Gefahr allein zur Schule gehen […] Ich habe diese besseren Tage gesehen, und ich will sie wieder sehen.
So weit Karzai 2007.
Ich zitiere das, weil mir wichtig ist, dass wir ein wenig vorsichtig sind mit den beliebten Pauschalurteilen, so mit der falschen Behauptung, Afghanistan sei immer ein schreckliches Land gewesen, mit dem hochmütigen Glauben, unsere Mitmenschen seien, wenn sie denn Afghanen sind und in Afghanistan leben, gar nicht zur Demokratie fähig, oder mit dem entmutigenden Verdikt, es sei nichts gut in Afghanistan.
30 Millionen Menschen leben dort jeden Tag ihren Alltag. Dieser Alltag mag leichter geworden sein durch die Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Vieles ist besser als zur Zeit der Herrschaft der Taliban. Aber die Sicherheitslage ist längst nicht gut. Es gibt immer noch viel zu viel Gewalt in Afghanistan. Natürlich müssen wir Bilanz ziehen, müssen wir uns heute, am Ende des alten Mandats und vor dem Beginn des neuen, kritisch fragen: Ist die Afghanistan-Mission eine gescheiterte Mission des Westens? Ich glaube, wir dürfen nicht sagen, dass die Mission gescheitert ist. Wir alle kennen die vielen unbezweifelbaren Erfolge, und die Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr haben einen wesentlichen Anteil daran, wenn auch unter Opfern. Das verdient den Dank des gesamten Hauses, gerade heute, wenn wir Bilanz über fast 13 Jahre ISAF ziehen.
Aber wir sollten uns klar darüber sein, dass unsere Afghanistan-Mission kein Modell für irgendeine andere Konfliktregion auf der Welt sein kann. Der Einsatz war sehr sehr lang. Seit über zwölf Jahren haben wir Militär am Hindukusch stationiert; und bis heute wird geschossen, gebombt und gekämpft. Der Einsatz war sehr sehr international: 48 Nationen haben Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geschickt, über 80 Nationen helfen mit zivilen Mitteln. Es ist gut, dass es viele sind; aber manchmal macht es das noch ein bisschen schwerer.
Unser Einsatz hat unvorstellbar viel Geld gekostet. Die USA haben auf dem Höhepunkt ihres Engagements mehr als 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr allein für ihren militärischen Einsatz ausgegeben. Das war ein Vielfaches der zivilen Hilfe. Ich weiß, dass man so nicht rechnen kann, aber wir müssen uns heute wenigstens fragen, ob die Proportionen immer gestimmt haben. Ich selbst habe keine fertige Antwort auf diese Frage.
Afghanistan war in den 80er-Jahren eine Art Symbol im Kampf gegen die Ausbreitung des sowjetischen Imperialismus. Afghanistan ist heute ein Symbol im Kampf gegen eine ganz andere totalitäre Ideologie: den mörderischen Dschihadismus. Dieser Dschihadismus bedroht nicht nur Afghanistan oder Irak. Er bedroht Nigeria, Libyen, Somalia, Jemen, Syrien und Pakistan. Wir haben gelesen, dass pakistanische Talibanführer ausdrücklich zur Unterstützung der Kämpfer des „Islamischen Staates“, des IS, aufgerufen haben. Deshalb gibt es auch für Afghanistan eine reale Besorgnis: Gehen die Taliban heute neue Bündnisse mit dem IS ein wie vor 15 Jahren mit al-Qaida? Entsteht hier eine weltweit immer einheitlichere totalitäre Bewegung? Oder werden sich die dschihadistischen Gruppen untereinander bekämpfen wie in Syrien?
Ich glaube, für die Zukunft Afghanistans sind viele innere Faktoren wichtig, aber auch drei äußere:
Erstens. Der totalitäre Dschihadismus in Syrien und im Irak muss sichtbar eingedämmt und zerschlagen werden.
Zweitens. Pakistan muss eindeutig die Taliban und den Dschihadismus in Pakistan und in Afghanistan bekämpfen. Die Bedrohung durch den Dschihadismus ist tödlich. Auch Ambivalenz gegenüber dieser Bedrohung könnte tödlich sein.
Drittens. Der Westen darf sich nicht von Afghanistan abwenden. Die Fortsetzung der Entwicklungszusammenarbeit ist wichtig. Ebenso wichtig ist die Fortsetzung einer begrenzten militärischen Präsenz für Beratung und Unterstützung, und zwar so lange dies nötig ist. Der Missionsabbruch des Westens im Irak darf kein Modell für Afghanistan sein. Das darf in Afghanistan nicht passieren.
Zum Schluss ein Wort zu Deutschland. Ich zitiere noch einmal aus dem Artikel „Ich habe einen Traum“ von Hamid Karzai. Er schreibt:
Um ehrlich zu sein, mir gefällt das Leben in Deutschland sehr gut. Es ist ein vorhersagbares Leben, und das mag ich. Wenn man an einem Flughafen ankommt und ein Taxi braucht, bekommt man definitiv ein Taxi. Wenn Sie einen Bus brauchen, bekommen Sie einen Bus. Es ist ein Land mit einer strengen Arbeitsethik, das ist extrem wichtig. […] Wenn ich etwa 50 Jahre in die Zukunft sehe, dann wäre ich froh, wenn wir nur die Hälfte von dem hätten, was Deutschland hat. Ich wäre sogar schon froh über 30 Prozent.
So weit Karzai.
Ich möchte abschließend sagen: Ich bin froh, dass wir Deutsche nicht auf der Seite stehen, die dringend Hilfe braucht – das gab es auch schon mal –, sondern dass wir diejenigen sind, die Hilfe zur Selbsthilfe geben können. Dieses Parlament ist bereit, das zu tun.
Schönen Dank.