Herr Bartels, in den heftigen Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, um Integration und Thilo Sarrazin ist immer wieder der Vorwurf zu hören, der Wille der Menschen werde ignoriert. Haben die Politiker den Kontakt zum Volk verloren?
Hans-Peter Bartels: «Das Volk» ist sehr bunt und sehr verschieden. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, wo ganz unterschiedliche Menschen unterschiedliche Meinungen zu den gleichen Themen haben. Soll es höhere oder niedrigere Steuern geben? Wie hoch sollen Hartz-IV-Sätze sein? Wie soll die Integration von Ausländern gefördert werden? Darüber werden Wahlen entschieden.
Den «Willen des Volkes» gibt es nicht?
Bartels: Nicht in dem Sinne „Alle wollen das gleiche“. Es ist für die Demokratie gefährlich, wenn sie als quasi wissenschaftliche Veranstaltung interpretiert wird, wo am Ende nur eine Lösung die «richtige» ist. Demokratie bedeutet nicht „Wahrheitsfindung“, sondern freie Debatte und Mehrheitsentscheidung. Wir haben unterschiedliche Interessen und Weltanschauungen in der Gesellschaft und die müssen sich politisch artikulieren. Deswegen gibt es verschiedene, oft gegensätzliche Positionen bei den unterschiedlichen politischen Parteien, natürlich auch im Parlament. So ist Demokratie gemeint.
Viele Leute empfinden die öffentliche Streiterei der Parteien als etwas Negatives.
Bartels: Ausgerechnet den Streit zwischen Parteien für ein Problem zu halten, ist wirklich ein Problem! Streit ist nötig, wenn es unterschiedliche Meinungen gibt! „Parteienstreit“ heißt Meinungsstreit. Und Kompromisse sind übrigens nicht immer faul, sondern oft vernünftig und notwendig. Demokratie lebt davon, dass Entscheidungen auf Zeit getroffen werden. Wenn sich etwas bewährt, bleibt es dabei. Wenn es sich nicht bewährt, kann es wieder geändert werden. Dafür muss man nicht gleich gegen die Regierung putschen oder einen Bürgerkrieg anfangen. Unser parlamentarisches System ist ein ausgesprochen lernfähiges politisches System.
Was sagen Sie Menschen, die Wut auf «die Politiker» empfinden, wenn sie Ihnen gegenüber stehen?
Bartels: Das Interessante ist, dass die meisten Menschen diejenigen Abgeordneten, die sie kennen und mit denen sie diskutieren, ganz okay finden. Und auch die wichtigsten fernsehbekannten Minister in Frau Merkels Kabinett kommen auf erstaunlich gute Zustimmungswerte. «Die Politiker» als anonyme Gesamtheit dagegen sind Blitzableiter für alles, was man schwierig und ärgerlich und nicht gut geregelt findet. Wenn man sagt, „die Politiker sind schuld“, wird es schon irgendwie richtig sein. Damit muss leben, wer sich zur Wahl stellt und gewählt wird.
Tragen manche Abgeordneten nicht zu einer negativen Wahrnehmung von Politikern bei – etwa, indem sie in ihren «Nebenjobs» als Aufsichtsräte oder Berater mehr Geld verdienen als mit ihrem Mandat im Bundestag?
Bartels: Ja, es gibt ganz bestimmt Aspekte des politischen Betriebs, die nicht gerade helfen, ein gutes Bild der gelebten Demokratie zu vermitteln. Dazu gehören die berühmten «Nebentätigkeiten», die manchmal auch eher Hauptbeschäftigung von Abgeordneten sind. Meine Meinung: Ein Bundestagsmandat ist ein Vollzeitjob, dafür muss man andere Tätigkeiten ruhen lassen. Allerdings – auch das muss man sehen – würde es damit für Freiberufler schwieriger, nach ihrer Zeit als Abgeordneter wieder ihre alte Berufstätigkeit aufzunehmen. Abgeordneter ist ja nur ein „Beruf auf Zeit“, durch Wahl gewonnen, durch Wahl zu verlieren.
Wären mehr plebiszitäre Elemente in unserer Demokratie wünschenswert?
Bartels: Ja. Das kann man machen! Aber man sollte sich davon keine Wunderdinge erwarten. Ich glaube nicht, dass mehr Plebiszite zu größerer Zufriedenheit mit der Demokratie führen. Wir haben ja auf kommunaler und auf Landesebene in den meisten Bundesländern seit Jahrzehnten die Möglichkeit, Volksabstimmungen durchzuführen. Davon wird sehr wenig Gebrauch gemacht.
Auch die Wahlbeteiligung geht zurück, die Mitgliederzahlen der meisten Parteien sinken. Warum verliert die deutsche Demokratie so sehr an Attraktivität?
Bartels: Man könnte fast sagen: Weil sie aus der Mode kommt. Es hat Zeiten gegeben, da war es schick, sich gesellschaftlich zu engagieren. Heute haben wir eher ein Primat des Ökonomischen. Viele Menschen fragen sich in erster Linie: Was nützt es mir? Ich würde mir dagegen wünschen, dass mehr Leute einmal die Erfahrung machen, wie viel Freude es bereitet, wenn man sich für andere Dinge als nur für sich selbst interessiert. Wenn man mit anderen diskutiert, streitet, im politischen Gespräch zusammen sitzt. Das beginnt bei Schülervertretungen und Elternbeiräten und endet nicht in Parteien. Jeder ist von unserem Grundgesetz dazu aufgerufen, die Demokratie mit Leben zu füllen. Und wenn wir im Moment das Gegenteil feststellen, dann ist das ein Alarmsignal. Es ist nicht gut, wenn Menschen glauben, es ginge ohne sie.
Was muss geschehen?
Bartels: Man muss sichtbarer machen, wie Demokratie, wie Politik tatsächlich funktioniert. In den Schulen, in den Medien, von mir aus in Kinofilmen, wie dies im angelsächsischen Kino längst Tradition ist. Im politischen Betrieb wäre manches verbesserungsfähig – Stichworte: Streitkultur, politische Sprache, die Inszenierung der Parlamentsarbeit. Und die politische Bildung muss gestärkt werden. Alle Bürger müssen wissen, dass sie Teil eines demokratischen Gemeinwesens sind, das nur gut funktioniert, wenn viele sich daran beteiligen. Die Freiheiten unserer Verfassung sind nur dann sicher, wenn wirklich Gebrauch von ihnen gemacht wird.
Das Interview wurde ursprünglich für das Internetnachrichtenportal news.de aufgezeichnet.