Russlands Ukraine-Politik hat die Nato geschockt und den Westen sprachunfähig gemacht. Dennoch handelt die Bundesregierung besonnen, und das ist richtig. Ein Gastbeitrag
In der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung über russische Annexionspolitik in der Ukraine, die wir gerade miterleben, gibt es ein verstörendes Detail, das jeder kennt und niemand beim Namen nennen mag. Für die Soldaten der russischen Armee, die bewaffnet und in Uniform (aber mit abgedeckten oder entfernten Hoheitsabzeichen) auf dem Staatsgebiet des souveränen Nachbarlandes Ukraine ihre Aufträge erfüllen, hat sich in den Medien die Bezeichnung „kleine grüne Männchen“ eingebürgert.
Klar ist freilich: Sie kommen nicht vom Mars, aber dass sie definitiv aus Russland kommen, darf man nicht so ohne Weiteres behaupten. Denn Russland dementiert, und die 28 Regierungen der Nato oder der EU mögen ihre diesbezüglichen Erkenntnisse öffentlich nie als Faktum, sondern immer nur als realistische Vermutung äußern.
Das ist bitter für die Wahrheit, aber vernünftig für die nach Verhandlungslösungen suchende Politik. Denn was müsste aus der Feststellung des Grenzübertritts bewaffneter Kräfte in ein anderes Land folgen? Wie nennt man das dann?
Der Westen tut wirklich viel, um den Konflikt nicht weiter zu eskalieren: Internationale Gremien nutzen, Gespräche mit allen Seiten organisieren, keine substantial combat forces der Nato in den Osten verlegen, Russland den Rückweg offenhalten.
Putin hat den Einsatz seines Militärs jedenfalls auf der Krim inzwischen selbst eingeräumt (für die Ostukraine nicht). Er nennt Russlands uniformierte Waffenträger mit den abgedeckten Hoheitsabzeichen „höfliche Leute“, noch so ein freundlicher Euphemismus!
Besucht man dieser Tage die Nato in Brüssel, trifft man auf ruhige, ernste, aber immer noch etwas geschockte Gesprächspartner. Mit russischer Konfrontationspolitik, mit Militärinterventionen zur Grenzveränderung hatte im Bündnis ernsthaft kaum noch jemand gerechnet. Jetzt wird neu interpretiert, was sich seit Jahren – im Nachhinein betrachtet – angebahnt hat: die drastische Aufstockung des russischen Militärbudgets, die Modernisierung der Streitkräfte, die neue Militärdoktrin, Putins Reden über den Westen als möglichen Gegner und die Auflösung der Sowjetunion als „größte Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts, der Einmarsch in Georgien (Südossetien) und die Manöver zum Durchstoßen an die Ostsee (Abschneiden der baltischen Staaten vom Rest der Nato) und Ãœbungen zum Atomwaffeneinsatz in Polen. Militärische Planspiele müssen keine politischen Pläne sein.
Aber das Unbehagen etwa der Polen über das Ruck-Zuck-Referendum auf der Krim sollte historisch auch für uns Deutsche gut nachvollziehbar sein. Am 17. September 1939 rückte die Rote Armee gemäß Hitler-Stalin-Pakt in Ostpolen ein. Bereits im Oktober 1939 wurde dann dort abgestimmt: über den Anschluss an die Sowjetunion. Eine überwältigende Mehrheit im sowjetisch besetzten Polen stimmte dieser Farce angeblich freiwillig zu. Es folgte die gewaltsame Einverleibung der baltischen Republiken, die Bestand hatte bis 1991. Das ist die Erfahrung unserer exponierten Nato-Verbündeten im Osten.
Und wer nicht Verbündeter ist, blickt gegenwärtig sogar noch etwas ängstlicher auf die Führung einer expansiven Großmacht, die Stalins Vielvölkerreich nachtrauert. Namentlich Moldau und Georgien.
Klar ist in Brüssel heute, dass die Krimkrise vieles verändert und Vertrauen zerstört hat. Aber die offene Frage, die Militärs und Diplomaten dort vor dem nächsten Nato-Gipfel Anfang September in Wales umtreibt, lautet: „Is this a game changer?“ Auf Deutsch: War’s das?
Oder bleibt Putins imperialer Ausbruch des Jahres 2014 eine Episode? Kommt er zurück auf das europäische Terrain der Vertragsdiplomatie, den Ausgleich der Interessen, der wirtschaftlichen Verflechtung und auch der sicherheitspolitischen Kooperation? Niemand setzt sich – aus guten historischen Gründen – stärker dafür ein als die deutsche Bundesregierung. Gelänge diese Rückkehr zur Partnerschaft nicht, wären die Folgen für Russland, Europa und die Welt unabsehbar.
Wer immer behauptet, das Verhalten Russlands gut verstehen zu können, weil es „rational“ sei, möge doch bitte der Weltgemeinschaft damit helfen, auf Grundlage dieser Rationalität heute einigermaßen präzise vorherzusagen, wie die Lage in zwei oder vier Wochen sein wird! Tatsächlich kann das niemand. Schon die Rückkehr Putins zur Berechenbarkeit aber wäre für seine internationale Umwelt ein Fortschritt.