1. „Karriere“?
„Karriere“? Das hört sich nicht gut an. Das Wort klingt, jedenfalls für linke Ohren, nach Berechnung, Ehrgeiz, Egoismus.
Lassen Sie mich mit einer Geschichte beginnen:
Zum ersten Mal auf meine „politische Karriere“ angesprochen wurde ich wohl vor nunmehr 18 Jahren, 1981. Ich war damals Vorsitzender des Vereins „Junge Presse Schleswig-Holstein“, der die Schüler- und Jugendzeitungen des Landes organisiert, und hatte eine Stellvertreterin von der SDAJ, der DKP-Jugendorganisation. Ich selbst war 20 Jahre alt und seit zwei Jahren Sozialdemokrat.
Unser Verein sollte zu den Ostermärschen der Friedensbewegung aufrufen, gegen Nato-Nachrüstung und US-Imperialismus. Ich war gegen einen solchen Aufruf, weil ich Helmut Schmidts Begründung des Nato-Doppelbeschlusses plausibel fand. Außerdem hielt ich die USA für eine demokratische Freiheitsmacht und die Sowjetunion für eine totalitäre Diktatur.
Ich konnte mich damals durchsetzen, sehr zur Verbitterung unserer kommunistischen Fraktion, die sich nicht vorstellen mochte, daß es möglich war, jung und links und so sehr gegen ihre spezielle Vorstellung von Frieden zu sein. Die Erklärung meiner Stellvertreterin – und sie hatte die Form eines Vorwurfs – lautete schlicht, ich habe wohl auf meine „politische Karriere“ in der SPD Rücksicht nehmen wollen und deshalb regierungstreu argumentiert, also opportunistisch.
Im Nachhinein bin ich froh, vor 18 Jahren eine Position bezogen zu haben, die ich auch heute vernünftig finde. Aber habe ich damals so argumentiert, nur um heute sagen zu können, ich sei schon immer recht vernünftig gewesen? 1987 sagte dann auch Gorbatschow, die SS-20-Stationierung stelle eine einseitige Vorrüstung der Sowjetunion dar und man könne sich auf den vollständigen Abbau der russischen und amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa einigen. Was dann bekanntlich auch geschah – und womit Helmut Schmidt und ich recht behielten. Verteidigung der Friedenspolitik von Helmut Schmidt: Das war in den 80er Jahren aber eigentlich nicht das politische Thema, mit dem man in der SPD „Karriere“ machen konnte.
Die damals aufstrebenden Nachwuchskräfte profilierten sich vielmehr gegen die eigene, alte Regierungslinie.
- Gerhard Schröder veröffentlichte 1981 gemeinsam mit Gert Bastian eine Juso-Broschüre unter dem Titel „Wider den Nato-Rüstungsbeschluß“.
- Und Oskar Lafontaine, von Amts wegen zu der Zeit schon Oberbürgermeister in Saarbrücken, stellte gleich die ganze Nato-Mitgliedschaft zur Disposition.
Wenn der Aufstieg dieser Juso-Generation in der SPD ein gemeinsames Motto hatte, so lautete es: „Leg′ Dich quer, dann bist Du wer!“ Doch vielleicht war das unbewußt auch mein Motto. Es ist ja immer die Frage, wem man in die Quere kommt.
2. Biographisches
Ich bin in Düsseldorf geboren und in Schleswig-Holstein aufgewachsen, seit 1968 Kieler. Ich bin jetzt 37 Jahre alt, verheiratet mit einer Journalistin, wir haben eine 7-jährige Tochter. Nach dem Abitur war ich bei der Bundeswehr, habe dann in Kiel Politische Wissenschaft studiert und damit zunächst vier mögliche Berufsperspektiven verbunden:
- erstens: weiter in der Wissenschaft arbeiten,
- zweitens: Journalismus,
- drittens: politische Verwaltung und
- viertens: selbst „Politik machen“.
Alle vier Optionen habe ich ausprobiert:
- Wissenschaft: Nach dem Magisterexamen zwei Jahre mit Landesstipendium Promotion zum Dr. phil., nebenbei und danach noch einige Semester Lehraufträge am Kieler Politik-Institut
- Journalismus: Studienbegleitend Arbeit als freier Journalist bei der Kieler Rundschau, nach der Promotion dann dort Redakteur. Leider ging die Zeitung, kaum daß ich da war, pleite.
- Verwaltung: Zum Kieler-Rundschau-Konkurs kam gerade recht der Regierungswechsel in Schleswig-Holstein 1988. So wurde ich Redenschreiber von Björn Engholm in der damals hochberüchtigten Kieler Staatskanzlei. Später war ich stellvertretender Büroleiter von Heide Simonis, dann Sektenbeauftragter der Landesregierung, nebenbei einige Jahre Personalratsvorsitzender.
- Schließlich Politik: Seit Anfang der 80er Jahre war ich bei den Jusos aktiv, bin ich von dort ausgehend durch die Parteiinstitutionen gewandert: Ortsvereinsvorstand, Kreisvorstand, Vorsitzender des Kreisausschusses, Vorsitzender des SPD-Landesausschusses.
Als jetzt Norbert Gansel nach 25 Jahren den Wahlkreis aufgab, weil er zum Oberbürgermeister gewählt worden war, habe ich mich um seine Nachfolge beworben und wurde von einer Mitgliederversammlung der Kieler SPD gegen zwei Mitbewerberinnen in einer ziemlich spannenden Entscheidung nominiert. Aktuelle Wasserstandsmeldung vom 27. September 1998: 54,9 % Erststimmen.
Ich hatte vorher keine öffentlichen Ämter oder Mandate inne, bin also ein lernender Abgeordneter, politische Schwerpunkte zurzeit: Familien- und Jugendpolitik. Soviel zum Lebenslauf.
3. Grundsätze
Ich komme nun noch einmal, jetzt als Politikwissenschaftler, auf die „Karriere“ als solche zurück. In seiner „Einführung in die Politische Wissenschaft“ formulierte Otto Heinrich von der Gablenz 1965 „Grundsätze der politischen Karriere“, die so unakademisch, aber so fein beobachtet sind, daß ich Ihnen einen Absatz daraus vortragen möchte:
„Um Karriere zu machen, muß man erst einmal bekannt werden. Man muß sich also sehen lassen, möglichst oft, an möglichst vielen Stellen. Man muß den Eindruck erwecken, eifrig und vielseitig interessiert zu sein. Bei einer Wahl genügt es oft schon, daß man ‚einen Namen hat‘. Die bloße Tatsache, daß man von dem Kandidaten weiß, ist schon ein Vorteil zu seinen Gunsten. Es ist der alte Reklametrick: Wenn ich ohne sachliche Kenntnisse und Vorurteile zwischen Waren zu wählen habe, bevorzuge ich meistens die, deren Namen ich schon gehört oder gelesen habe. Natürlich darf man sich in diesem Stadium möglichst noch keine Feinde machen. Das kommt schon früh genug, wenn man erst als Konkurrent unbequem geworden ist! Man soll sich Freunde machen; solange man noch nicht viel zu sagen und zu verantworten hat, kosten Liebenswürdigkeiten und Versprechungen nicht viel und schaden auch der Sache nicht. Man muß sehen, daß man immer recht behält, sich nicht blamiert. Es ist also eine gewisse Zurückhaltung geboten in Behauptungen und Forderungen. Man muß auch kühl bleiben, darf sich nicht reizen, nicht verblüffen lassen. Alles das gilt für den Aufstieg mit Hilfe von Wahlen. Wer aufsteigen will als Gefolgsmann eines Führers, muß sich vielleicht gerade festlegen und sich die Feinde seines Meisters zu Feinden machen. Das erspart ihm aber nicht die Methoden der Aufstiegstaktik zu einem späteren Zeitpunkt. Diese Grundsätze der Schlauheit sind nicht geradezu unmoralisch, aber sie enthalten beträchtliche Versuchungen für den Charakter. Das ist das Risiko des Kampfes um die Macht. Aber es ist ja nicht nur die Politik, die ‚den Charakter verdirbt‘. Die beiden anderen klassischen Versuchungen (Matth. 4), des Reichtums und des Ruhms, sind anders, aber nicht geringer.“
Mit dem „Kampf um die Macht“ sind nicht nur Risiken und Versuchungen verbunden, sondern auch Zumutungen, die in Kauf nimmt, wer sich, jedenfalls zeitweise, für Politik als Beruf entscheidet. Ich will hier einige Punkte nennen.
Erstens: Wer gewählt werden will, muß sich selbst thematisieren. Erzähl′ von dir, die Leute sollen dich kennenlernen, raten die Alteingesessenen dem Neuling. Sag′ nicht „ich möchte“, sag′ „ich will“, das klingt entschlossener. Sei immer mit auf dem Bild, steh′ in der ersten Reihe, gib′ jedem die Hand! Wer bescheiden ist oder schüchtern oder gut erzogen, wird sich freiwillig nicht gern in dieser professionell aufdringlichen Weise exponieren wollen.
Zweitens: Berufspolitiker sind notorisch freundliche, fast bis zur Albernheit fröhliche Mitmenschen. Jedenfalls tun sie gut daran, so zu tun, als seien sie′s. Niemandem weh und jedem wohl – man weiß nie im voraus, was es später einmal nützen kann.
Nicht jedem allerdings liegt es, auf diese Art berechnend zu sein.
Drittens: Wer sich als Volksvertreter zur Wahl stellt, vermittelt besser den Eindruck, er stehe dem Volk uneingeschränkt, mit Haut und Haaren, Tag und Nacht zur Verfügung; er freue sich über Anrufe von Bürgern um 7.00 Uhr morgens, die einmal an kompetenter Stelle ihre Meinung über die wirtschaftsfeindliche Politik der Bundesregierung zum besten geben wollen; und er habe gerade darauf gewartet, am Sonntagmittag zur Arbeitsgruppensitzung seiner Fraktion nach Berlin zu reisen. Berufstätigkeit des anderen Partners, Familienleben und Berufspolitik sind schwer miteinander zu vereinbaren. Soviel des Jammers.
Diesen eher prohibitiven Spielregeln stehen materielle Vergünstigungen gegenüber, die allein schon das Mandat für manchen attraktiv machen können. Jeder Bundestagsabgeordnete hat Anspruch auf eine (zu versteuernde) Entschädigung in Höhe von 12.840 DM monatlich (12 mal im Jahr), eine steuerfreie Aufwandwendungspauschale in Höhe von 6.459 monatlich für Wahlkreisbüro, doppelte Haushaltsführung, Reise-, Kommunikationskosten usw., zwei voll ausgestattete Büroräume am Sitz des Parlaments, die Übernahme der Kosten von Mitarbeitern bis zu einer Bruttogehaltssumme von 14.449 DM monatlich (das entspricht etwa zweieinhalb Stellen), freies Bahnfahren und freies Lufthansafliegen bundesweit, soweit es der Mandatsausübung dient, Immunität, Indemnität und einen Diplomatenpaß. Von der Altersversorgung gar nicht zu reden.
Man sollte sich die Bedingungen, zu denen Mitmenschen „in die Politik gehen“, gelegentlich klar machen, um ohne modischen Politikverdruß die tatsächliche Personalauswahl einordnen zu können. Es sind nicht zuletzt diese Bedingungen der berufspolitischen Arbeit, die viele möglicherweise gut geeignete Wahlberechtigte davon abhalten, sich selbst zur Wahl zur stellen. Und die materiellen Gratifikationen der erfolgreichen Wahl ziehen möglicherweise auch Charaktere an, die eventuell weniger geeignet sind.
4. Generationenbruch
In der SPD, für die ich hier vor allem sprechen kann, gab es die letzten fünfzehn, zwanzig Jahre ein weiteres Ausschlußkriterium, das die Personalauswahl erheblich eingeschränkt hat: die Zugehörigkeit zur 68er-Juso-Generation. Andersaltrige, zumal Jüngere, kamen eine lange Weile in der nach außen hin sichtbaren SPD nicht mehr vor. Der innerparteiliche Durchmarsch, Aufstieg und Erfolg der „Enkel“ war total. Und er hat jetzt sein erhabenstes Ziel erreicht, die Ausscheidungskämpfe sind vorbei: Der vierte „Enkel“-Kandidat, endlich, ist zum Kanzler gewählt. Nicht „der Oskar“, nicht „der Björn“, nicht „der Rudolf“, sondern „der Gerd“ ist es geworden.
Die SPD hat derweil fast eine ganze Nachwuchsgeneration verloren. Weil die Jusos der späten 60er und der 70er Jahre selbst sehr früh, in jungen Jahren, in sozialdemokratische Ämter und Mandate eingetreten sind, fühlen sie sich bis heute im Geiste jung. Sie sehen immer noch gut aus, sind fit und genußfähig, graumeliert, bei jeder Mode dabei, tolerant und inzwischen mit jüngeren Frauen verheiratet. Den ersten werden von ihrem leiblichen Nachwuchs nun selbst Enkelkinder zugemutet. Aber was es wirklich bedeutet, jung zu sein, das wissen immer noch sie selbst am besten.
Neben den aufsteigenden 68er-peer-groups war in den 80er und frühen 90er Jahren kein Platz für politischen Nachwuchs. Alles besetzt. Die Zahl der Jusos ging derweil dramatisch zurück, die Grünen wurden stärker und die Nützlicheren der jungsozialistischen Epigonen wurden von den wachsenden Apparaten der „Enkel“-Administrationen aufgesogen.
Erst jetzt treten in der SPD wieder Jüngere auf den Plan, darunter – wie ich – einige Übriggebliebene aus den Juso-Jahrgängen der 80er, aber auch erstmals wieder eine ganze Reihe Twens, Zwanzig- bis Dreißigjährige. Dem letzten Bundestag gehörten am Ende 8 SPD-Abgeordnete unter 40 Jahren an, in der jetzigen SPD-Fraktion sind es 36, immerhin.
5. Das politisch Neue
Dabei ist es nicht nur das Alter, das sozialdemokratisches Establishment und Youngster voneinander unterscheidet. Vielleicht lassen sich identitätsbildende politische Gemeinsamkeiten der Neuen noch nicht mit bloßem Auge erkennen. Aber woher sollte die „Erneuerung“, von der schon viel geredet wird, denn kommen? Und worin könnte sie bestehen? Was heißt Erneuerung – über die Ersetzung älterer durch jüngere Abgeordnete hinaus – politisch?
Ich will eine Antwort versuchen: Erneuerung heißt zunächst, Ideen zu überprüfen, die ihre Zeit gehabt haben. Individuelle Selbstverwirklichung, Protestkultur, symbolische Politik, Ablehnung des „Staates“ – manche Muster der 68er-Studentenrevolte haben sich nach einem langen Marsch durch die Universitäten, Schulen, Medien, Parlamente, Verwaltungen und Interessengruppen im sozialdemokratischen Alltag fest etabliert. Aber taugen die durchaus noch populären Ideale von „68“ als Rezept für das nächste Jahrzehnt? Können Werte und Verhaltensweisen, die in Ablehnung des Vietnamkrieges entwickelt wurden, eine plausible Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung liefern? Konkreter:
Sind autoritäre Erziehung und familiäre Zwänge heute das Problem – oder nicht vielmehr der Zerfall der ersten und wichtigsten Solidargemeinschaft: Familie?
Ist unsere Gesellschaft wirklich gekennzeichnet durch allzu große Normenkonformität – oder nicht vielmehr durch die Unfähigkeit, sich überhaupt noch auf gemeinsame Werte zu verständigen?
Gibt tatsächlich ein allgemeiner Mangel an Kritikfähigkeit Anlaß zur Besorgnis – oder nicht vielmehr das totale Infragestellen aller Regeln?
Haben wir nicht mehr demokratische Wahl-, Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte durchgesetzt, als es jemals zuvor gab – und hat das die Legitimation, die Zustimmung, die Beteiligung an unserem politischen System verbessert? Offenbar nicht.
Stattdessen beklagen wir eine Zunahme kleiner Fluchten aus der Gesellschaft – in Drogen, Sekten oder Aussteigergruppen –, fürchten uns vor zunehmender Gewaltbereitschaft, Verrohung und Verwahrlosung in manchen perspektivarmen Milieus, bemerken einen allgemeinen Schwund des Unrechtsbewußtseins bei jeder Art von Vorteilsnahme und rücksichtslosem Ellenbogengebrauch.
Es wird Zeit, insbesondere für die Linke, festzuhalten, daß heute der radikalliberale Einsatz für noch mehr individuelle „Selbstverwirklichung“ keineswegs zu noch mehr Freiheit für alle führt. Noch mehr Individualisierung, noch mehr Ich-Ich-Ich ist heute nicht mehr fortschrittlich, sondern ist zur Ideologie einer Raff-Gesellschaft geworden. Niemand sollte sich täuschen und glauben, Ideologien würden heute nichts mehr bewirken. Wer sein Menschenrecht auf spitze Ellenbogen einfordert; wer wegsieht, wo er hinsehen müßte; wer meint, jeder ist sich selbst der Nächste – der folgt einer radikalliberalen Ideologie, die gegenwärtig eine starke und mächtige Ideologie ist, aber eine falsche!
Was wir jetzt dagegen brauchen, ist soziale Verbindlichkeit, mehr Verantwortungsbewußtsein, mehr sozialen Halt. Wir brauchen gemeinsame Maßstäbe und Werte, wenn wir unsere Gesellschaft zusammenhalten wollen – auseinanderfallen tut sie gerade schon von alleine.
Die Newcomer der deutschen Sozialdemokratie am Übergang zum 21. Jahrhundert vertreten keine neue oder ganz andere Partei. Aber sie haben – davon bin ich überzeugt – in ihrer politischen Sozialisation, in ihrer Generationenerfahrung mehr gemeinsam als ihnen vielleicht bisher bewußt ist. Manches knüpft dabei eher an die Vor-68er-SPD an. Manches wird neu sein. Die Generation nach dem Generationenbruch fängt erst an, sich ihrer Rolle bewußt zu werden, Netze zu knüpfen und praktische Politik zu machen.