Meine Damen und Herren,
ich bin versucht, die Titelfrage dieses Workshops schnell vorweg zu beantworten: „Muß Freiheit grenzenlos sein?“ Die Antwort lautet: Nein! Muß nicht. Kann nicht. Darf nicht. Wer wollte etwas anderes behaupten?
Nun zum Thema. Ich nehme an, es geht uns hier um das rechte Maß von Freiheit und Bindung, von Rechten und Pflichten, von zentrifugalen und zentripetalen Kräften in einer Gesellschaft. Der mächtigste Trend, der unser Zusammenleben verändert, scheint mir gegenwärtig das öffentliche Streben nach Entbindung und Entpflichtung zu sein – und das Lob der sozialen Fliehkräfte.
Wenn jeder nur an sich denkt, ist an alle gedacht, heißt die Parole.
- Also raus aus der Zwangsrente!
- Raus aus all den Zwangs-Sozialkassen!
- Raus aus den Tarifverträgen!
- Raus aus den Fesseln der abhängigen Beschäftigung!
- Raus aus den Gewerkschaften und den Parteien!
- Raus aus Deutschland!
Wohin? In die Freiheit …
Dieses allgemeine Bedürfnis nach Deregulierung, Flexibilisierung und Liberalisierung aller regelhaften Beziehungen zwischen Menschen, ist nun keineswegs originell. Es ist immer schon das politische Programm des Besitzbürgertums gewesen – und nicht etwa ein besonderer Ausdruck von aktueller digitaler Fortschrittlichkeit.
Aber die technische Entwicklung treibt natürlich die ökonomische und politische Modernisierung voran. Neue Technik fordert neue menschliche Beziehungsformen. Die alten Bande zwischen Mensch und Mensch müssen zerrissen werden, damit neue geknüpft werden können – und seien es heute die Fäden in Computernetzen.
Um einmal den Jargon zu wechseln, ein Zitat aus einer anderen Zeit:
„Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisie-Epoche vor allem anderen aus.“ So Karl Marx und Friedrich Engels vor 152 Jahren im Kommunistischen Manifest. Umwälzung der Produktion, das meint heute: CAD und CAM, Internet, Globalisierung, Informations- und Dienstleistungsgesellschaft.
Wir erleben gegenwärtig wieder einen Modernisierungsschub. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, wenn die technische Grundlage der Industriegesellschaft sich wandelt, muß das soziale Regelwerk, um funktionsfähig zu bleiben, sich ebenfalls wandeln. Zur Zeit wird in der Modernisierungsdebatte allerdings ein Menschen- und Gesellschaftsbild propagiert, das fürchterlich ist. Der flexible Mensch, der zum noch flexibleren Kapitalismus passen soll, ist jung, gut ausgebildet, durchsetzungsstark, bereit jederzeit umzuziehen, ohne ernsthafte Bindung und Verantwortung außerhalb seines Berufs, allein interessiert an Karriere und Geldverdienen.
Der Modernisierungsschub treibt so die Individualisierung weiter voran: Mehr Menschen leben als Singles, freiwillig und unfreiwillig; Familien kommen immer später zustande, sind immer kleiner und lösen sich immer schneller auf; alle großen Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts – von der Kirche bis zum Sportverein – klagen über rückläufige Mitgliederzahlen.
Die bindungslose Mobilität wird heute so selbstverständlich vorausgesetzt, als sei es egal, ob Menschen überhaupt noch Familien gründen, Kinder erziehen, sich in Nachbarschaften, Vereinen und Politik engagieren oder überhaupt Raum und Zeit für sich, für ihre Beziehungen, für ihr eigenes Leben haben. Hier geht es um Freiheit. Um die Freiheit, persönliche, gemeinschaftliche Bindungen einzugehen. Um die Freiheit, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen, für vertraute Lebenspartner, für die eigenen Töchter und Söhne, für die eigenen alten Eltern, für Freunde, die einem nah und wichtig sind, für die Gemeinde, in der man lebt.
Vielleicht möchte man auch ein Haus bauen, vielleicht mit seiner Sportmannschaft zusammenbleiben.
Dieser Freiheit steht die Tendenz zur Flexibilisierung, zur Mobilisierung und Beschleunigung entgegen. Je mehr berufliche Flexibilität, desto weniger Sicherheit der eigenen Lebensplanung. Die Freiheit, die einem die gegenwärtige Modernisierung verspricht und abverlangt, ist die Freiheit von Bindungen, die Freiheit von Verantwortung. Es ist die Freiheit, totaler als bisher dem Erfolg der Firma zu dienen.
Man sieht den Wandel der Anforderungen zum Beispiel in den Stellenanzeigen. Die Württembergische Metallwarenfabrik etwa suchte 1971 „junge Damen und Herren als Nachwuchsführungskräfte, die auch eventuell bereit sind, den Wohnort zu wechseln.“ Es ist förmlich spürbar, wie der Personalchef mit roten Ohren um eine vorsichtige Formulierung dieser Unannehmlichkeit rang, um möglichst keine Bewerberinnen und Bewerber abzuschrecken. Das ist Vergangenheit, gute alte Zeit.
Also: Die Ökonomie fordert heute mehr denn je Flexibilität, Kurzfristigkeit. Die Menschen aber brauchen Sicherheit, Langfristigkeit, um ihr Leben außerhalb der Erwerbsarbeit selbst frei gestalten zu können. Zwischen diesen beiden Polen, Flexibilität und Sicherheit, wird der Freiheitsdiskurs der Zukunft geführt. Dabei müssen wir uns übrigens politisch nicht für die eine oder für die andere Seite entscheiden, sondern eine vernünftige Balance finden, das rechte Maß.