Beitrag von Hans-Peter Bartels und Ole Jann in der Zeitschrift Berliner Republik, Oktober 2009

Kaum eine Partei hat jemals so viel Zustimmung erfahren wie die SPD: Befürworten Sie die Einführung von Mindestlöhnen? 80 Prozent. Ausstieg aus der Atomkraft? 70 Prozent. Zufrieden mit der politischen Arbeit des Spitzenkandidaten? 71 Prozent. Und jetzt: SPD wählen? 23 Prozent. Wer in den Wochen vor dem 27. September 2009 Wahlkampf gemacht hat, der musste – selbst wenn er nebenbei die Umfragen der Forschungsinstitute auswendig gelernt hatte – am Wahltag um 18 Uhr doch erst einmal schlucken. Zu sehr klaffen die öffentliche Wahrnehmung sozialdemokratischer Themen und das Wahlergebnis auseinander.

Die erste Feststellung vieler Analysen, die in diesen Tagen in Ortsvereinssitzungen, Kneipen und EMail- Postfächern stattfinden: An den Inhalten kann es nicht gelegen haben – es war schließlich für alle etwas dabei! Verstehen wir so im 21. Jahrhundert das Prinzip Volkspartei? Für die Umweltbewussten jährlich zwei Milliarden Euro mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Zwei zusätzliche Partnermonate für junge Eltern. Und für die Älteren: Teilrente schon ab 60. Das alles ist richtig. Aber findet sich in den Wahlprogrammen, in den hunderten Publikationen zur Wahl ein verbindender Gedanke, ein großes gesellschaftliches Ziel? Nicht wirklich. Stattdessen tritt die SPD als eine Ansammlung von Volksbegehren auf: für den Mindestlohn, für die Beschränkung der Managergehälter, für die Abschaffung (oder Nichteinführung) von Studiengebühren. Die Ziele, so scheint es, erschöpfen sich in Acht-Punkte-Programmen: Was tun wir, was die anderen nicht machen? Alles offenbar in der Hoffnung, dass die Leute für einen dieser Punkte schon zur Wahl gehen werden. Aber keiner beantwortet die Frage: Woran glauben wir, was ist die Philosophie, was sind die großen Ideale, die uns von den anderen unterscheiden? Weniger Regierungs-Spiegelstrich, mehr sozialdemokratischer Grundsatz!

Es ist ja nicht so, dass der Zeitgeist die Sozialdemokratie einfach überholt und abgehängt hätte. Nach wie vor halten 83 Prozent der Deutschen „soziale Gerechtigkeit“ für wichtig oder sehr wichtig, und für 44 Prozent ist der Garant dafür die SPD – mehr als jede andere Partei. Sogar 60 Prozent können sich „vorstellen“, SPD zu wählen (CDU/CSU: 53 Prozent).

Wer vernetzt das freundliche Milieu?

Aber nur wenn die verbindenden Gedanken der deutschen Sozialdemokratie, ihre – wenn man es altmodisch so nennen will – „Weltanschauung“, die allen richtigen und wichtigen Vorschlägen und Wahlprogrammpunkten zugrunde liegt, in den Vordergrund rückt, kann man hoffen, in diesem insgesamt freundlichen Milieu auch wieder zu mobilisieren.

Franz Müntefering hat, als er das „schönste Amt neben Papst“ zum zweiten Mal antrat, ein Beispiel für ein solches Credo gegeben: „Wir wollen, dass niemand am Rand der Gesellschaft zurückbleibt.“ Wer so denkt, denkt sozialdemokratisch. Eine solche Zielvorstellung erfordert allerdings die ständige Beantwortung der Frage: Was muss dafür neu getan werden? Das fällt vielleicht schwerer als der Superpragmatismus der neuen CDU oder die Deregulierungs- Ideologie der FDP. Inklusionspolitik, Armutsbekämpfung, die richtige Bildungsform – all das braucht einen schlüssigen „Überbau“. Und mehr als jede andere Partei braucht die SPD eine offene Diskussionskultur: Ihre Politik muss – jedenfalls immer auch – von den Ortsvereinen aus „nach oben“ gemacht werden und nicht nur von Regierungs- oder Parteivorstand aus „nach unten“. Alles andere passt nicht zur 146 Jahre alten SPD. Die Partei ist kein loses Netzwerk zum Gedankenaustausch und auch kein politischer Flashmob („Yeah!“), der sich ein paar Wochen vor der Wahl zusammenfindet, um die Macht im Land zu übernehmen.

Ministerialdirigent Genosse Dr. Sachzwang

Das Grundgesetz ist in seinem positiven Auftrag eindeutig: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Das heißt auch, sie tun das nicht nur vor den Wahlen, nicht nur in Berlin und nicht nur mit ihren Funktionären. Die Parteien sind nach dem Willen des Grundgesetzes keine Elitenparteien, ebenso wie der Bundestag kein Elitenparlament ist. Volksparteien integrieren im Idealfall alle Teile der Bevölkerung, alle Schichten und Lebensweisen.

Nur wenn eine Partei im öffentlichen Leben dauerhaft präsent ist, kann sie sich auch am Wahltag der Stimme ihrer Unterstützer sicher sein. Die CSU macht es vor: Ihre Mitglieder gibt es nicht nur im Bundestag und im Stadtrat, sondern sichtbar auch in der Kneipe, auf dem Wochenmarkt und im sprichwörtlichen Schützenverein. So entstehen keine Zweifel daran, dass es die Partei gibt und dass ihr vertrauenswürdige und angesehene Personen angehören. Das alles konnte die SPD schon einmal – und hat es nach und nach aufgegeben. Mehr und mehr hat sich die regierende SPD auf sich selbst und ihre Regierungsapparate zurückgezogen. Damit wurde auch der Stil gouvernmentaler, obrigkeitlicher. Ihr höchster Ausdruck: Ministerialdirigent Genosse Dr. Sachzwang beim Studium eines von ihm in Auftrag gegebenen Gutachtens von Waterhouse Berger.

Natürlich würde es auch helfen, wenn die „Überparteilichkeit“ ihren Nimbus verliert und „Parteilichkeit“ endlich wieder als existenziell für die Demokratie wahrgenommen wird. Gewerkschafter etwa berichten, ihr Werben für die SPD in den Betrieben werde nur ernst genommen, sofern sie selbst bekanntermaßen nicht parteigebunden seien – da läuft etwas falsch. Die Wiederherstellung der öffentlichen Präsenz wäre trotz allem schwer, wenn die Partei selbst, wie einige meinen, die einzige weltanschauliche Erhebung in der Ebene sozialdemokratischen Lebens wäre. Das ist sie aber nicht. Seit Jahrzehnten gehört eine Vielzahl von Institutionen zum weiteren Umfeld. Organisationen, in denen sich sozial und demokratisch gesonnene Menschen zusammenschließen, um gemeinsam für eine bessere Welt zu arbeiten: Die Arbeiterwohlfahrt, im Jahr 1919 von der Reichstagsabgeordneten Marie Juchacz gegründet, hat heute 430.000 Mitglieder und fast 150.000 Beschäftige in mehr als 14.000 Einrichtungen. Für viele ist sie der erste Ansprechpartner bei Pflegebedürftigkeit, Krise oder im Alter – und sie bekennt sich zu „Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“. Was ist das, wenn nicht sozialdemokratisch?

Wo die Sozialdemokratie gut gedeihen könnte

Im Auto-Club Europa sind, bei mehr als einer halben Million Mitgliedern, über 1,2 Millionen Menschen abgesichert – mit dem Ziel der „sozialen Gerechtigkeit“ und „Mobilität für alle Gruppen der Gesellschaft“. Der Arbeiter-Samariter-Bund, gegründet im späten 19. Jahrhundert als Selbsthilfeverein bei Arbeitsunfällen, hilft mit 1,1 Millionen Mitgliedern und 18.400 hauptamtlichen Mitarbeitern jährlich bei 800.000 Einsätzen. Im Sozialverband Deutschland (früher Reichsbund), setzen sich 525.000 Mitglieder „für den Ausbau und den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme“ ein. Der Verband bekennt sich ausdrücklich zu sozialer Gerechtigkeit als zentralem Ziel. DieBüchergilde Gutenberg, im Jahr 1924 gegründet, hat auch heute noch zum Ziel, ihre etwa 100.000 Mitglieder zu einem erschwinglichen Preis zu bilden.

Im Norden Deutschlands: Die Konsumgenossenschaft coop eG, deren 43.000 Mitgliedern 250 Märkte in ganz Norddeutschland gehören; fast 10.000 Mitarbeiter sind dort beschäftigt. Die auf vielen SPD-Festen überall in der Republik präsente Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, die Naturfreunde, die „Adler“-, „FT“-, „Vorwärts“-Sportvereine in der Tradition der Arbeiterbewegung.Volksbühnenvereine in vielen deutschen Städten – am bekanntesten in Berlin –, die ihren Mitgliedern Karten zu sozialverträglichen Preisen anbieten und so allen den Theaterbesuch ermöglichen wollen.

Diese Organisationen – und ein weit darüber hinaus gehendes weltanschauliches Umfeld – bilden nach wie vor ein freundliches, fortschrittliches Milieu, in dem eine sozialdemokratische Partei in Deutschland gut gedeihen könnte. Es sind Millionen von Menschen, die sich organisieren für das, was auch wir wichtig finden. Meist haben Sie keine Affinität zu den radikaleren Parolen der Linkspartei. Oft wählen sie SPD, manchmal nicht. Aber alle unterstützen eine politische Richtung, die jeder SPD-Ortsverein nachts um 0.30 Uhr noch beschließen könnte: für Schwache, für Selbsthilfe, für solidarische Lösungen, für einen Staat, der Ausgleich schafft, für Bildung, gegen Dünkel, für vernünftiges Wirtschaften.

In diesen Organisationen gibt es Sachverstand und Begeisterungspotenzial, die bisher kaum politisch sichtbar werden. Sicher: Die SPD lädt die Vorsitzenden mancher Verbände ab und an auf ihrem Ticket zu Bundestagsanhörungen ein, und in manchen Unterbezirken sind auch die Beziehungen zwischen AWO und SPD besonders herzlich. Insgesamt aber gibt es wenig horizontale Vernetzung. Viele Menschen, die sozialdemokratische Werte teilen, fühlen sich von der dazugehörigen Partei eher allein gelassen. Man kann sie gewinnen – nicht in erster Linie durch irgendwelche politischen Zugeständnisse, sondern vor allem durch die aktive Wiedereinbindung in den politischen Prozess. Wenn sie es wollen.

Zu dieser Öffnung hin zu unseren Freunden sollte im Inneren eine Revision unserer eigenen Mittel und Fähigkeiten kommen. Rund 200 Mitarbeiter arbeiten allein im Willy-Brandt-Haus für den Parteivorstand. 260 sind es derzeit noch bei der SPD-Bundestagsfraktion. Der Nutzen dieser enormen Apparate in Zeiten der Wahlauseinandersetzung? Genau richtig? Ist die Kraft von 222 SPD-Bundestagsabgeordneten für die Stärke der SPD dann am besten eingesetzt, wenn jeder sich nur um seinen Wahlkreis kümmert und bei der zentralen Wahlkampfführung möglichst nicht stört?

Minutenlange stehende Ovationen

Der altehrwürdige Vorwärts: Muss er immer nur PR-Blatt des Parteivorstandes sein („Der SPD-Vizekanzler überzeugte seine Partei mit einer kämpferischen Bewerbungsrede: Minutenlange, stehende Ovationen für den Kandidaten“)? Eine Parteizeitung kann erklären, argumentieren und veranschaulichen. Schwärmen muss sie nicht. Attraktiv wäre vielleicht auch eine Betätigung als „Sturmgeschütz der Demokratie“ – gerade nachdem sich andere Medien aus dieser Stellung zurückgezogen haben.

Zum Unternehmensbereich der SPD gehört die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft (dd_vg), deren Tageszeitungsbeteiligungen auf eine Auflage von mehr als 1,8 Millionen täglich kommen. Inhaltliche Einflussnahme auf die Berichterstattung verbietet sich. Aber das Hochhalten journalistischer Standards, die in den kommerziellen Verlagen mehr und mehr zu Restgrößen werden, entspräche dem sozialdemokratischen Geist. Pluralismusfeindliche Sprache („Machtwort“, „Parteiengezänk“), demokratiefremder Jargon (Abgeordnete als Aufsichtsräte, die Kanzlerin als „CEO“) müssen nicht hingenommen werden.

Als ob Ratlosigkeit die Botschaft wäre

Man kann über Politik auch anders berichten, nennen wir es demokratiegerecht. Manche Medien, eher einige Journalisten, machen es vor. Für eine gute Berichterstattung können sich auch Leser, Zuhörer, Zuschauer einsetzen – aber eben auch der (Mit-)Eigentümer. Es gibt keinen Grund, warum die dd_vg sich nicht mit den jeweils anderen Gesellschaftern zusammenfinden und eine Vereinbarung über die Förderung demokratiegerechter Berichterstattung abschließen kann. Die Friedrich-Ebert-Stiftung wie auch andere könnten sensibilisierende Weiterbildung anbieten; so viel Selbstbewusstsein darf schon sein. Bei jedem Fußballspiel im Fernsehen sitzen Dutzende Experten am Mikrofon und erklären die aktuelle Spielsituation technisch, menschlich und historisch. Nur bei der Berichterstattung über Politik wird der Zuschauer allzu oft allein gelassen, als ob Ratlosigkeit schon die Botschaft wäre.

Die eingangs zitierten Umfrageergebnisse, die Größe und Mannigfaltigkeit der Organisationen des weltanschaulichen Umfelds und die nach wie vor vorhandene Wahrnehmung als Partei der sozialen Gerechtigkeit zeigen: Der öffentliche Diskurs in Deutschland könnte überwiegend sozialdemokratisch sein, und keine deutsche Partei hat so viel Zustimmungspotenzial wie die SPD. Jetzt gilt es, über Werte zu mobilisieren, sich wieder mit befreundeten Organisationen zu vernetzen und die eigenen Kräfte besser zu nutzen. In vier Jahren sind wieder Wahlen. Und dann!