Gastkommentar von Hans-Peter Bartels in der Tageszeitung "Die Welt" vom 25. Februar 2006

Unsere Sitzung wurde kurz unterbrochen, die Fernseher an der Decke eingeschaltet – der Verteidigungsausschuß sah, wie die Richter in Karlsruhe ihre Kappen aufsetzten, und hörte die Gründe für den finalen Abschuß des Luftsicherheitsgesetzes (mit dem Grundgesetz unvereinbar, nichtig). Bei einem Terrorangriff wie in New York dürfte in Deutschland ein zur Waffe gewordenes Passagierflugzeug nicht abgeschossen werden. Verteidigungsminister und Piloten hätten im schlimmsten Fall beides gegen sich: die Notsituation und die Verfassung. Sie wären gesetzlich verdammt, ihre Hände in Unschuld zu waschen.

Für solche Situationen bietet, wenn nicht das Recht, dann die Philosophie eine entlastende Legitimation. Ich erinnere mich gut an einen Ethikkongreß, zu dem Björn Engholm 1990 in die Kieler Universität eingeladen hatte. Da saß ein deutsch-jüdischer Philosoph aus New York, 1933 emigriert, spät berühmt geworden mit seinem Buch Das Prinzip Verantwortung: Hans Jonas. Die äußersten Situationen, sagte er, sind tyrannisch in sich selbst. Beim brennenden Haus oder beim sinkenden Schiff müsse unter Zwang gehandeltwerden, es liege eine Tyrannei der Not vor. Diese finde dann in Organen der Verwaltung oder der Befehlsausübung ihren Ausdruck, wenn die Einsicht vorherrsche, daß Freiheit nur unter den Bedingungen der Selbstbeschränkung bestehen kann. Gäbe es diese freiwillige Selbstbegrenzung nicht, dann könnte die unfreiwillige an ihre Stelle treten: Terror, Krieg, Diktatur.

Was sich heute fast wie ein Kommentar zum gescheiterten Luftsicherheitsgesetz liest, drückt zugleich die Rationalität unserer Notstandsverfassung aus, lange heftig umstritten und schließlich verabschiedet von der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre. Was im Extremfall helfen kann, muß auch rechtmäßig sein, sagt seither das Grundgesetz. Die Bundeswehr ist für die deutsche Republik damit Rettungsanker und letzte Reserve in allen Fällen äußerer und innerer Gefahr, seien es Bedrohungen durch den Sowjetkommunismus, durch Naturkatastrophen und Bürgerkrieg – und natürlich auch durch neue Formen des Terrorismus.

Im Falle des äußeren oder inneren Notstands läßt das Grundgesetz den Einsatz der Streitkräfte im Innern ausdrücklich zu.

Allerdings ist Voraussetzung dafür eine unmittelbar bevorstehende oder tatsächlich eingetretene existentielle Bedrohungssituation. Personalmangel bei den Landespolizeien oder das Bedürfnis, auf Großleinwänden Fußballspiele anzuschauen, führen nicht zur Entsperrung der grundsätzlichen Aufgabentrennung zwischen Polizei und Bundeswehr. Nicht ein Landesinnenminister, nicht die Bundesregierung hebt diese Trennung auf, sondern allein der Deutsche Bundestag, indem er den Verteidigungs- oder Spannungsfall mit Zweidrittelmehrheit feststellt. So hoch liegt die Hürde für den Übergang von der Verfassung der Freiheit zur Notstandsverfassung, die einer Tyrannei der Not durch klare Regeln vorbeugt.

Inzwischen gehen auch Grundgesetzkommentare dazu über, die vorhandenen Verfassungsbestimmungen mit der neuen Bedrohung durch nichtstaatliche, terroristische Kriegführung in Zusammenhang zu bringen. Mangoldt/Klein/Starck wenden sich gegen einedefinitorische Engführung des Bundeswehreinsatzes im Innern nur aufgrund drohender zwischenstaatlicher Konflikte. Dies ließe moderne Spannungslagen wie etwa den (ABC-)Terrorismus, Fälle von Öko -Aggressionen oder gezielt (staats)terroristische Aktivitäten so genannter Schurkenstaaten vollkommen außer acht. Allerdings seien an die Feststellung des Spannungsfalls hohe Anforderungen zu stellen. Terroranschläge müßten schon ein derartiges Ausmaß haben (…), daß es notwendig erscheint, die Rechtsfolgen des Spannungsfalls herbeizuführen. Im Spannungsfall haben die Soldaten nach Art. 87 a unter anderem die Befugnis, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen. Dafür muß das Grundgesetz nicht geändert werden. Nach dem Veto des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz muß man sich noch einmal klarmachen: Wir haben bereits eine Notstandsverfassung. Die Debatte darüber ständig neu zu führen ist überflüssig. Vieles ist rechtlich möglich, anderes wird heute für schlechterdings unregelbar erklärt. In diesen Ernstfällen regiert die blanke Tyrannei der Not. Dann muß die Legitimation des Handelns aus der Evidenz des Erforderlichen erwachsen.

Der Autor ist Bundestagsabgeordneter und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.