Essay von Hans-Peter Bartels für Die Welt vom 11. März 2013

Wird Mali unser nächstes Afghanistan? Manche Kommentierung der letzten Wochen legt diese Parallele nahe: hier Islamisten, da Islamisten, hier wie dort eine multiethnische Gesellschaft und schwache Staatsstrukturen, beide Male riesige unwegsame Territorien – ein Déjà-vu? Nein, die Mali-Hilfe der Europäer ist geradezu als lessons-learned-Operation des Nato-Einsatzes am Hindukusch angelegt: eine Art Anti-Afghanistan-Mission. Vom Isaf-Hauptquartier in Kabul werden Soldaten aus 48 Truppen stellenden Nationen kommandiert. 120 Milliarden Dollar im Jahr gaben auf dem Höhepunkt ihrer Militärpräsenz allein die USA aus. 80 Staaten beteiligen sich mit Geld und ziviler Aufbauhilfe, allen voran Amerika. Internationale Organisationen von Weltbank bis Unicef und NGOs von den Johannitern bis „Kinderberg“ und „Lachen helfen“ betreiben Tausende von Projekten. In buchstäblich jeder afghanischen Institution stecken heute internationale Ausbilder, Mentoren, Koordinatoren, Berater und Geldgeber. In allem und jedem, was in Afghanistan aufgebaut wurde, hat irgendein Akteur der babylonischen Helfer-Community seine Finger drin.

Dieses überschwänglich omnipräsente Engagement der Weltgemeinschaft ist enorm gut gemeint, erfordert einen enormen materiellen und politischen Abstimmungsaufwand, ist hochattraktiv für Profiteure und Handauf halter aller Art, kostet Unsummen – und macht den geordneten Rückzug besonders langwierig und gefährlich. Denn wie kommt man einigermaßen sicher vor Rückschlägen zu dem Zustand, der heute so plakativ afghan ownership genannt wird?

Im Fall Mali soll nun alles anders sein. Nicht eine global zusammengetrommelte Anti-Terror-Koalition der Willigen vertreibt die islamistischen Okkupanten, sondern eine einzelne ehemalige Kolonialmacht mit Militärstützpunkten in der Nachbarschaft, Frankreich. Nicht die Nato oder die EU sollen danach im ganzen Land für Ordnung sorgen, sondern eine Friedenstruppe aus der Region, gestellt von den Mitgliedsstaaten der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas, ergänzt um Kräfte aus dem Tschad und die wiederherzustellende malische Armee. Wahrscheinlich wird demnächst die UN direkt die Leitung der Mission – und damit auch deren Finanzierung – übernehmen.

Der Beitrag der EU besteht darin, die regionale Hilfe und die malische Selbsthilfe zu „ermöglichen“, sie schickt Ausbilder für neu zu rekrutierendes malisches Militär, Lufttransport für hereinkommende Ecowas-Truppenteile, gegebenenfalls Luftbetankung für französische Kampfflugzeuge unter UN-Mandat. Es wird Ausrüstungshilfe geben. Und natürlich zivile Projekte. Aber von vornherein bleibt Mali erstens eine malische Angelegenheit, zweitens ein Konfliktherd, der (west-)afrikanische (und französische) Aufmerksamkeit erfordert, und erst drittens ein Fall für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Europa zieht sich hier nicht einfach wegen Unzuständigkeit ohne eigene, Kampftruppen aus der Affäre, sondern folgt vielmehr dem neuen strategischen Ansatz, regionale Bündnisse dabei zu unterstützen, die Sicherheitsverantwortung in ihrer Nachbarschaft selbst übernehmen zu können. Sie hätte das im Fall Mali deutlich früher tun können, nicht erst, als es fast zu spät war. Aber besser jetzt als gar nicht.

Es gab sogar Präzedenzfälle. So hat Deutschland vor Jahren schon angeboten, für Soldaten der Afrikanischen Union, die im Sudan-Konflikt die Friedenstruppe stellt, Lufttransportleistungen zu übernehmen. Mehr als eine Handvoll Flüge wurde damals allerdings nicht abgefordert. Doch niemand sollte sich darauf herausreden können, dass es an Unterstützung gefehlt habe. Und für die langsam wieder Kontrolle gewinnende Übergangsregierung Somalias bildet die EU mit deutscher Beteiligung in Uganda somalische Soldaten aus.

Das Gegenmodell zu diesem regionalen Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe war – vom super-internationalistischen Modell Afghanistan abgesehen – die 1999 beschlossene deutsche Beteiligung an der internationalen Osttimor-Mission. Nichts, was die Bundeswehr hier an (sanitätsdienstlichen) Kapazitäten ans andere Ende der Welt schaffte, hätte die lead nation Australien nicht selbst bereitstellen können. Aber es ging der Regierung Schröder/Fischer damals ums Prinzip: Wir engagieren uns nicht nur vor der eigenen Haustür, auf dem Balkan, sondern leisten auch dort Hilfe, wo wir in keiner Weise selbst betroffen sind. Edel, aber uneffektiv.

Nach der lehrreichen Afghanistan-Erfahrung hat der regionale Ansatz Konjunktur. Selbst dort werden jetzt die mittelbaren und die direkten Nachbarn durch den Rückzug des Westens stärker Verantwortung übernehmen, ob sie wollen oder nicht: Indien, China, Pakistan, auch der Iran, der schon einmal Hunderttausende afghanische Flüchtlinge aufnehmen musste. Es gibt Konferenzformate, wo dies vorbereitet wird. Was EU und Nato wohl in Zukunft, so weit dies irgendwie möglich ist, vermeiden wollen, sind neue Großeinsätze mit jährlichen Truppenstellerkonferenzen und der Gesamtverantwortung für ein ganzes, ganz anderes Land.

Was in der Causa Mali zudem überrascht, ist die vergleichsweise kleine Zahl von Gegenakteuren, die – da ihnen nicht Einhalt geboten wurde – große Wirkung erzielen konnten. Die Unabhängigkeitskämpfer der Tuareg, wenige Tausend′, haben sich schon von den falschen Freunden aus dem zugewanderten islamistischen und terroristischen Dschihad-Milieu verabschiedet und die Seiten gewechselt. Die Drogenschmuggler-Milizen gehen in Deckung, al-Qaida weicht zunächst in die Wüste und in andere Sahel-Länder aus.

Araber, die noch kämpfen wollen, dürften wenig Resonanz finden in einer ganz überwiegend nicht arabischen, sondern schwarzafrikanischen Gesellschaft. Mali, mit geschätzt 15 Millionen Einwohnern halb so bevölkerungsreich wie Afghanistan, verfügte vor Putsch, Sezession und Islamistenvormarsch über eine gerade mal 7000 Köpfe zählende Armee; die Hälfte kam in den Wirren des letzten Jahres abhanden. Es gab ein Machtvakuum. Afghanistans Geschichte dagegen ging und geht ganz anders.

Der Autor ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Verteidigungsausschusses.