Gastkommentar zur Grundsatz-Debatte in der SPD von Hans-Peter Bartels in der Tageszeitung "Die Welt" vom 31. Mai 2006

Andere geben 100 Millionen Euro aus, um ihre politischen Vorstellungen zu verbreiten. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, finanziert von der Arbeitgebervereinigung Gesamtmetall, kauft zehn Jahre lang mit jeweils zehn Millionen Euro öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Programm: weniger Staat, Steuern runter, länger arbeiten, Löhne senken, Gewinne rauf.

Die SPD diskutiert derweil ihr Grundsatzprogramm öffentlich und bis auf weiteres ergebnisoffen. Auf 1999 datiert der Einsetzungsbeschluß einer ersten Programmkommission. Inzwischen ist die vierte Truppe am Werk, der vierte Parteivorsitzende führt Regie. Zwei Bundestagswahlen und eine Kanzlerin weiter liegt nun ein erstes Thesenpapier zur konkreteren Debatte vor. Zu gleicher Zeit regieren und programmieren, das hat doch nicht gut zusammengepaßt. Jetzt aber soll das Projekt endlich abgeschlossen werden, wenn nichts mehr dazwischenkommt, im Herbst 2007. Es wäre das achte Programm der dann 144 Jahre alten Partei.

Hätte man schon im Jahr 2000 beschlußfassen müssen, wäre damals vielleicht manche Glaubensüberzeugung von Gesamtmetall auch sozialdemokratischer Programmgrundsatz geworden: weniger Staat, Steuern runter, Gewinne rauf. Man erinnert sich an das Schröder/Blair-Papier, das der marktförmigen Steuerung einen gewissen Vorrang vor staatlicher Regulierung einräumte, und an die großzügige Steuersenkungspolitik der rot-grünen Regierung. Das galt vor dem 11. September 2001, vor Börsencrash und New-Economy-Pleite als moderne sozialdemokratische Politik.

Wer damals ja sagte zur Parole „Privat statt Staat“, der setzte nicht selten auf einen neuen Typ junger, akademisch gebildeter, liberaler, sozial interessierter, unspießiger Kapitalisten, Start-up-Unternehmer und Investment-Erben, die irgendwie progressiver waren als die öde Old Economy mit ihren CDU-Parteibüchern, Einstecktüchern, ihrem konservativen, nationalen und antisozialdemokratischen Habitus. Modern war damals, Partei zu ergreifen zugunsten einer bestimmten Kapitalfraktion – um den Sachverhalt einmal recht traditionell auszudrücken.

Inzwischen sind das Wolkenschiebereien von gestern. Die Kapitalseite erklärt unverschämt ihre Partikularinteressen zur Staatsräson. Der sozialstaatliche Kompromiß, der einst die Attraktivität des Westens gegenüber dem Osten begründen half, steht unter existentiellem Druck, ebenso wie Arbeitszeiten, Löhne, Standort- und Tariftreue. Die Globalisierung wird zum universellen Erpressungsargument. Gebe es nicht ganz schnell mehr Entstaatlichung und Deregulierung, mehr Downsizing und Outsourcing, mehr Steuer- und Sozialkostensenkung, kurz: „mehr Reformen“, dann, so die Drohung, geht der Exportweltmeister Deutschland im internationalen Wettbewerb krachend zugrunde.

Wer aber die Holzhammer-Analyse „Deutschland steht am Abgrund“ nicht teilt, der darf auch zu anderen Schlußfolgerungen, zu anderen Reformrezepturen für die Bewältigung von Globalisierung, demographischem Wandel und technischer Innovation kommen. Auf diesem Standpunkt steht die SPD heute. „Zu lange wurde unser Land schlechtgeredet“, heißt es in den SPD-Programmthesen. Wir brauchen „ein positives Verhältnis zu unserem Staat“; die Höhe der Staatsquote sei nicht entscheidend; Finanz- und Kapitalmärkte sollen mehr reguliert, Unternehmen und vermögende Privathaushalte stärker an der Steuerfinanzierung von Bildung, Forschung und Infrastruktur beteiligt werden. Europa wird „als positive Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung“ beschrieben. Die Globalisierung der Märkte sei durch „Globalisierung der Politik“ zu gestalten. Der Sozialstaat der Zukunft sei am Bürgerstatus, weniger an der Form der Erwerbstätigkeit der Menschen (als Arbeitnehmer, Selbständiger, Beamter) auszurichten. Entsprechend solle in den sozialen Sicherungssystemen das Beitragsniveau reduziert und der Steueranteil erhöht werden.

Das alles liest sich als Konsequenz aus den Erfahrungen von sieben Jahren rot-grüner Regierungspraxis: Die Interessen der Kapitalseite sind legitim, aber sie brauchen eine Gegenmacht, eine regulative Idee selbstbewußter Staatlichkeit. Das Primat der Politik, das hier formuliert wird, markiert den Abschied von der ökonomistischen Konsenspolitik der ersten Schröder-Jahre, die alle Widersprüche auf dialektische Weise irgendwie und irgendwo, vielleicht im Internet, aufgehoben sah. Nun ist der Grundwiderspruch wieder da.