Gastbeitrag von Hans-Peter Bartels für die Neue Züricher Zeitung vom 11. Dezember 2013

Um über die nähere Zukunft Deutschlands und Europas zu befinden, hat die SPD-Führung sich für ein extrem riskantes, wenn auch bezaubernd spektakuläres Manöver entschieden: ein verbindliches Votum aller 470 000 Parteimitglieder über den Koalitionsvertrag mit Merkels Union. So einen nachträglichen Mitgliederentscheid gab es noch nie. Er erinnert an die Urabstimmung von streikenden Gewerkschaftsmitgliedern, die einen ausgehandelten Tarifkompromiss billigen und damit den Arbeitskampf beenden sollen. Nur dass es bei diesem SPD-Mitgliedervotum nicht um bessere Tarifbedingungen für eine halbe Million Sozialdemokraten, sondern um vier Jahre politische Führung für 80 Millionen Deutsche und in gewissem Sinne auch 500 Millionen Europäer geht. Die Abstimmung ist kein Geschäft in eigener Sache.

Dolchstosslegenden

Parteivorsitzende per Mitgliederbefragung zu bestimmen (wie 1993 Rudolf Scharping für den zurückgetretenen SPD-Chef Björn Engholm) oder Spitzenkandidaten durch Urwahl auszusuchen – das betrifft die Innenverhältnisse einer Partei, bevor sie sich denWählern stellt. Mit dem Koalitionsentscheid sollen nun erstmals die Folgen eines schwierigen Bundestagswahlergebnisses (nach einem verpfuschten Wahlkampf) von der Parteibasis in geheimer Abstimmung geregelt werden.

Im Zustimmungsfall erschiene alles einfach: Die grosse Koalition aus CDU, CSU und SPD könnte gebildet werden, Deutschland hätte vor Weihnachten wieder eine handlungsfähige Regierung (das jetzige Merkel-Kabinett ist nur noch geschäftsführend im Amt und nach dem Ausscheiden der FDP ohne Mehrheit im neuen Parlament), und die SPD-Führung hätte die Verantwortung für das ungeliebte Regierungsbündnis klug geteilt mit der eigenen Basis. Kein Parteitag könnte eine solche zwingende Autorität entfalten wie der positive Entscheid des Parteivolkes. Mehr innerparteiliche Legitimation für einen unpopulären Beschluss geht nicht. Niemand könnte die Führung dafür kritisieren oder Verratslegenden stricken nach dem altbekannten Muster «idealistische Basis» contra «skrupellose Funktionäre».
Man hätte sich wie so oft in der 150-jährigen Parteigeschichte gequält, zwischen zwei Übeln abgewogen, mit dem schlechten Gewissen gekämpft – und am Ende eine realpolitische Entscheidung getroffen.

Allerdings birgt diese erstmalige Übertragung der Koalitions-Hoheit an die Mitglieder auch bemerkenswerte Risiken. Hier wird ja kein kontrolliertes Experiment aus dem Versuchslabor der Parteireform- Forscher veranstaltet, sondern im freien Feldversuch die Führungsfähigkeit einer gerade eben im Bundestagswahlkampf krass geschlagenen Parteispitze getestet. Die blosse Ankündigung des Mitgliedervotums selbst sollte dem geschwächten Vorstand jenen politischen Spielraum verschaffen, den er brauchte, um überhaupt Sondierungsgespräche mit CDU und CSU vorschlagen zu können (und diente nun wohl auch als Druckmittel in den Verhandlungen). Die Meinung einer grossen Zahl enttäuschter Sozialdemokraten direkt nach der Wahl schien dem ja diametral entgegenzustehen: Wer als Zweiter ins Ziel geht mit 16 Prozentpunkten Rückstand auf die Nummer 1, sollte das als Oppositionsauftrag verstehen. Sich nicht noch einmal – das schien die Lehre aus der letzten grossen Koalition 2005 bis 2009 – von Merkel klein machen lassen! 2009 kam die SPD nur noch auf 23 Prozent. Gegenüber dem Schröder-Wahlsieg von 1998 hatte sie in 11 Regierungsjahren nach und nach 10 Millionen Wähler verloren. Regieren macht schwach, oder?

Dass die 25,7 Prozent des Jahres 2013 nun allerdings als Indiz für die erfrischende Qualität kraftvoller Oppositionsjahre gefeiert werden können, mag bei genauerem Hinsehen auch niemand vertreten. Und Ursachen für das SPD-Desaster des Jahres 2009 gibt es mehr als nur den Merkel- Mythos: etwa den Wortbruch in Hessen, wo Andrea Ypsilanti sich entgegen früheren Schwüren doch mithilfe der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lassen wollte, oder die schäbige Absetzung des ehrbaren Parteivorsitzenden Kurt Beck. Oder die permanente Selbstdistanzierung von der Arbeit der grossen Koalition, deren Erfolge in der Wirtschaftskrise dann ohne Not Merkel auch gern allein öffentlich vertrat.

An CDU und CSU ist nichts Dämonisches, was auf geheimnisvolle Weise die SPD, wenn sie in die Koalition einwilligt, dem Untergang weihen würde – ausser dass CDU und CSU eben die letzte Wahl deutlich gewonnen haben. Kein Mensch kann die Wahlchancen in vier Jahren seriös vorhersagen. Die Zukunft ist offen. So offen wie das Ja der SPD-Basis in ihrer Urabstimmung zur Grossen Koalition. Entscheiden sich die Mitglieder dafür, die Politik der nächsten vier Jahre in Deutschland und Europa sozialdemokratisch mitzuprägen – oder wäscht die Mehrheit ihre Hände in Unschuld? Man hätte ja SPD wählen und die Sozialdemokratie zur stärksten Kraft im Parlament machen können. Dann wäre die Partei der Verantwortung gewiss nicht ausgewichen. Aber würde es ihr jetzt wirklich nützen, laue Kompromisse zu machen?

Tapfer sein

Sagte in dem jetzt laufenden Experiment die Basis Nein, dann gäbe es eine politische Explosion. Es wäre nicht nur ein Nein zur Koalition mit der Union, sondern auch ein Nein zu einer SPD-Führung, die die Wahl verloren und daraus die falschen Schlüsse gezogen hätte. Es gäbe Trümmer, Krisen, Provisorien. Deutschland hätte weiterhin eine «versteinerte», nur noch geschäftsführende Regierung und ein blockiertes Parlament. Vielleicht käme dann im Februar oder März doch noch Schwarz-Grün, ein halbes Jahr nach dem Wahltag vom 22. September. Vielleicht kämen Neuwahlen. Wahrscheinlich würde man sich in der SPD darauf verständigen, daran teilzunehmen. Denn tapfer ist man als Sozialdemokrat immer.