Gastbeitrag von Hans-Peter Bartels in der SHZ vom 10. Februar 2010

Die Bombardierung von Tanklastzügen und Taliban bei Kundus in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 platzte mitten in die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes. Bundeskanzlerin Merkel nutzte deshalb vernünftigerweise eine ohnehin anberaumte Sondersitzung des Bundestages am 8. September zur Abgabe einer Regierungserklärung. Sie sagte: „Zahlreiche Menschen haben ihr Leben verloren. Über die Folgen, insbesondere über zivile Opfer, gibt es widersprüchliche Meldungen. Das genau zu klären, wird uns heute Morgen nicht möglich sein. Umso mehr sage ich eines vorweg – und zwar ohne jede Umschweife: Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel.“ Nach Beifall von allen Seiten des Hauses bekräftigte sie ihre eigenen Worte noch einmal und fügte hinzu: „Ich denke, ich sage das in Ihrer aller Namen.“ Dafür gab es wiederum Beifall aller Fraktionen.

Dann machte die Bundeskanzlerin ein Versprechen: „Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls vom letzten Freitag und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit. (…) Ich stehe dafür ein, dass wir nichts beschönigen werden (…). Eine umfassende Bewertung des Angriffs und seiner Folgen ist mir, ist dem Bundesminister der Verteidigung, ist der Bundesregierung insgesamt absolut wichtig. Auf der Grundlage aller Fakten wird sie erfolgen: offen und nachvollziehbar.“

Das war stark, das klang souverän. Fehler wurden nicht eingeräumt, aber auch nicht ausgeschlossen. Die umfassende öffentliche Darstellung des tatsächlichen Geschehensverlaufs sowie die militärische, juristische und politische Bewertung würden später erfolgen. Gründlichkeit geht in Deutschland bekanntermaßen vor Schnelligkeit.

Das alles ist jetzt fünf Monate her. Seitdem hat die Bundestagswahl stattgefunden (27. September), wurde eine neue Regierung gebildet (28. Oktober), wurden wegen der Kundus-Affäre der Generalinspekteur und ein Staatssekretär entlassen (26. November) und trat der Bundesminister Jung zurück (27. November).

Aber bis heute hat die Bundesregierung keine eigene Darstellung des Geschehens in der Nacht von Kundus vorgelegt, keine eigene „umfassende Bewertung“ vorgenommen. Der von Merkel gewählte Begriff „lückenlose Aufklärung“ beschreibt das Gegenteil dessen, was seither tatsächlich stattgefunden hat: Auf die lange Bank schieben, wegducken, nichts wissen, nichts gewusst haben, nichts wissen wollen, sich hinter geheimen Papieren aus Bundeswehr und Nato verstecken.

Nach allem aber, was bisher an Informationen in die Öffentlichkeit durchgesickert ist, weckt dieses Nicht-Informieren Misstrauen: Was ist noch schlimmer als das bisher Bekanntgewordene, dass es die hartnäckige Verschwiegenheit rechtfertigt?

Guttenberg und der Nato-Bericht

Wenn Verteidigungsminister Guttenberg die Einrichtung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses ausdrücklich begrüßt, weil so Dinge aufgeklärt werden könnten, die ihn auch selbst interessierten, klingt das wie Hohn. Was die Bundeskanzlerin am 8. September als ein „Gebot der Selbstverständlichkeit“ bezeichnet hat – „lückenlose Aufklärung“ und „dass wir nichts beschönigen werden“ –, ist Monate lang nur Ankündigung geblieben. Was für Aufklärungsaktivitäten hat sie veranlasst, welche Fristen gesetzt?

Hatte Verteidigungsminister Jung noch das unwahrscheinliche Glück, dass der abschließende Nato-Untersuchungsbericht in Berlin gerade exakt am Tag der Regierungsneubildung (28. Oktober) eintraf, so dass sein Nachfolger entscheiden konnte, wie er damit umgehen wollte, beruft sich nun der neue Minister stets auf die Gnade des späteren Amtsantritts: Er sei ja „damals“ noch gar nicht verantwortlich gewesen. Guttenberg versteckt sich wie Merkel hinter Phrasen brutalstmöglicher Aufklärung und hinter einer Vielzahl geheimer Papiere, die er öffentlich mal so und mal so bewertet. Kritik an seiner Aufklärungspolitik weist er als unzulässige Kritik an der Bundeswehr zurück.

Guttenbergs Hauptproblem ist der abschließende Nato-Untersuchungsbericht. In seiner Pressekonferenz am 6. November geht Guttenberg zwei Mal schneidig und ausdrücklich über die juristisch unangreifbare Erklärung seines Generalinspekteurs Schneiderhan zum Nato-Bericht (29. Oktober) hinaus: „Ich darf allerdings auch sagen, dass ich nach meiner Einschätzung zu dem Schluss komme: Selbst wenn es keine Verfahrensfehler gegeben hätte, hätte es zum Luftschlag kommen müssen.“ Auf die Journalisten-Frage, ob die Bundesregierung denn nun einen eigenen Bericht zu dem Luftschlag vorlegen wolle, da ja der Nato-Bericht geheim eingestuft sei, sagte der Minister: „Nein. (…) Ich habe das Parlament unterrichtet, und ich glaube, das ist jetzt umfassend geschehen (…).“ Mit dem Abheften des geheimen Nato-Berichts wäre also der Ankündigung „lückenloser Aufklärung“ durch die Bundeskanzlerin zwei Monate zuvor Genüge getan.

Anzumerken bleibt, dass Minister Guttenberg, immer seinem Image treu, im Verteidigungsausschuss betont hat, den Nato-Bericht „selbstverständlich selbst“ gelesen zu haben. Wenn das stimmt, konnte ihm eigentlich nichts von dem, was in dem am 26. November durch die „Bild“-Zeitung öffentlich gewordenen deutschen Feldjägerbericht (vom 9. September) stand, mehr überraschen. Und er hätte dann nicht zu dem Ergebnis kommen dürfen, der Luftschlag habe stattfinden müssen. Das Ergebnis des Nato-Berichts ist für alle Abgeordneten, die Einsicht in ihn nehmen konnten, dass diese Aktion nicht hätte stattfinden dürfen, weil sie nicht im Einklang mit den Isaf-Regeln und der strategischen Absicht des Nato-Befehlshabers in Afghanistan stand.

Da der Bericht geheim ist und nicht aus ihm zitiert werden kann, fühlt sich aber der Minister offenbar frei, das Gegenteil zu behaupten. Eine Veröffentlichung des Nato-Berichts würde zeigen, dass Minister Guttenberg nicht falsch informiert war, sondern dass er selbst die Öffentlichkeit falsch informiert hat.

In seiner strategischen Weisung vom 26. August 2009 schreibt der Isaf-Befehlshaber McChrystal, dass das Töten von Aufständischen kontraproduktiv für die Nato-Mission sei: „Nach konventioneller Sichtweise hinterlässt die Tötung von zwei Aufständischen in einer zehnköpfigen Gruppe acht Aufständische: 10-2=8. Aus der Sicht der Aufständischen waren die zwei Getöteten aber vermutlich verwandt mit vielen anderen, die sehr wahrscheinlich Rache wollen. Bei zivilen Opfern ist diese Zahl noch höher. So führt der Tod von zweien zu viel mehr willigen Rekruten: 10 minus 2 ist gleich 20 (oder mehr), und nicht 8.“ Diese neue Nato-Logik der Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Gewalt ist von Deutschland lange eingefordert worden. Mit dem Luftschlag vom 4. September konterkarierte ausgerechnet Deutschland diese neue gemeinsame Linie.

Schuldzuweisungen

Der Bombenbefehl war nicht „angemessen“. Dass hier ein deutscher Oberst eine einsame („Verfahrensfehler“) Entscheidung treffen musste, ist ein Schluss, zu dem man nach Lektüre des Nato-Berichts sowie bei Kenntnis der gemeinsamen Nato-Strategie für Afghanistan nicht hätte kommen dürfen. Diesen persönlichen Einschätzungsfehler – und das ist das zweite Problem des Verteidigungsministers – nur korrigieren zu können, wenn anderen die Schuld für die eigene Fehleinschätzung anzulasten ist, erscheint schäbig. Was den Ablauf der Dienstgespräche im Amtszimmer des Ministers am Nachmittag des 26. November angeht, stehen die Erinnerungen der Beteiligten einander diametral entgegen, Aussage gegen Aussage. Für General Schneiderhan und Staatssekretär Wichert sind die öffentlichen Äußerungen Guttenbergs zur Entlassung seiner wichtigsten Untergebenen nichts anderes als ehrenrührig.