Beitrag in der Tageszeitung "Die Welt" vom 18. Dezember 2002

Nichts kann so bleiben, wie es ist. Deshalb bedeutet gegenwärtiges Wohlergehen wenig. Ruhe ist trügerisch, Stabilität Illusion. Die Bedürfnisse wachsen, es wachsen die Möglichkeiten, immer schneller wechseln die Moden. Wir stehen am Abgrund. Es muss etwas geschehen. Hart. Schnell. Entscheidend. Wer wagt die Tat? – So fühlte sich das an in Deutschland 1913/14. Nicht die Welt der Tatsachen spielte zunächst verrückt, sondern die Nerven. Der Historiker Joachim Radkau spricht rückblickend von einem „Zeitalter der Nervosität“.

Berlin im Winter 2002: Die Nerven liegen blank. Eine nervöse, sich aufschaukelnde öffentliche Meinung verlangt innenpolitische Grausamkeiten, radikale Einschnitte, endlich die brutale Wahrheit, eine Blut-Schweißund-Tränen-Politik, damit Deutschland überhaupt weiterexistieren kann. Unsere nichtswürdige Fraktion der Ruckverhinderer nennt diese Stimmung „hysterisch“, dringt damit aber gegen den lustvollen Sadomaso-Mainstream kaum noch durch. Kontinuierlich nimmt derweil die heilige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu, der deutsche Weltmarktanteil steigt, der Handelsbilanzüberschuss wächst – egal.

Es geht nicht um Tatsachen. Wenn die Leute sagen, du bist pleite, dann bist du pleite, lautet die sprichwörtliche Kernthese der soziologischen Schule des „symbolischen Interaktionismus“.

Oder in den Worten des früheren Regierungssprechers Peter Boenisch: Nicht Tatsachen verändern die Welt, sondern Meinungen über Tatsachen. Deshalb sind auch abseitige öffentliche Meinungen, sind Neurasthenie oder Hysterie nicht folgenlos. Sie verändern die politische Entscheidungssituation.

Die Wirtschaft, der Sozialstaat, das Schulwesen, unsere Regierung, alles steckt – wie aufregend! – scheinbar rettungslos in der Krise. Auch die glückliche Wahlsiegerpartei vom 22. September, die SPD? Parteien sind immer schnell unten durch und ebenso schnell wieder obenauf, Medienkonjunkturen beschleunigen das. Den Mitgliedern ist die Unsicherheit des Konkurrenzvorteils in der Parteiendemokratie bewusst. Wann jemals glaubten Sozialdemokraten, es ginge ihnen dauerhaft gut? Kaum jemals erschien das Zunkunftmachen einfach und klar? Wir hatten einen schönen Herbst 2001, ein scheußliches Frühjahr 2002, der Spätsommer brachte das Ãœberraschungshoch, der Herbst den tiefen Einbruch. Wird es ein kalter Winter?

Kein Grund zur Panik: Die Stimmungen schwanken extrem. Vieles ist offen: Was passiert im Irak? Wie geht es der Union? Hält sich Gabriel? Wenn die Not- und Eilgesetze abgearbeitet sind, sollten wir also bei den vereinbarten rot-grünen Großprojekten für diese Wahlperiode bleiben: Kinderbetreuung, Gesundheitsreform, Abbau von Arbeitsmarkthürden, mehr Geld für Forschung und für Verkehrsinvestitionen.

Was der Sozialdemokratie allerdings gegenwärtig mehr fehlt als zu jenen wechselvollen Oppositionszeiten, da man sich an Kohl abarbeiten, die Reaganomics verdammen und vor dem Neoliberalismus warnen konnte, ist ein verbindliches, aktuell gültiges Grundsatzprogramm – die lange Linie, der rote Faden. Das sagen inzwischen fast alle Genossinnen und Genossen. Mit dem Berliner Programm von 1989, dem sozialdemokratischen Schlussdokument der alten westdeutschen Bundesrepublik, ist heute nicht mehr viel Staat zu machen. Neue Fragen drängen hinzu: Individualisierung, Demographie, Globalisierung.

Der verbreiteten Klage, es mangele der SPD an großen Ideen, können einige noch lange gültige sozialdemokratische Visionen entgegengehalten werden: das große Ziel des geeinten Deutschland (von Lassalle über Schumacher und Brandt bis Stolpe); die Vision eines friedlich sich einigenden Europas (entsprechend dem Heidelberger Programm von 1925); das universelle Streben, der Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren zum Durchbruch zu verhelfen – im Betrieb wie auf der Weltbühne; die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen; die Chance eines jeden, sein Leben ohne vermeidbare Furcht vor Lebensrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit, ohne Ansehen von Herkunft und Geschlecht selbst zu gestalten, frei zu sein, sich binden zu können und sein Glück zu suchen; niemanden zurückzulassen.

Das sind stabile Ziele in Zeiten zittriger Nerven. Wir sollten Ruhe bewahren, das aktuell Notwendige tun und dann uns und die Öffentlichkeit unserer Programmatik versichern. Schon im Dezember 1999 hatte der SPD-Parteitag eine Programmkommission eingesetzt; es wird nun langsam Zeit für einen Entwurf und eine Beschlussperspektive. Das könnte etwa der ordentliche Parteitag im November 2003 sein. Kein Ruck, aber Anschub fürs Selbstbewusstsein, programmatische Nervennahrung.