Gastbeitrag von Hans-Peter Bartels in der Zeitung "Schleswig Holstein am Sonntag" vom 1. August 2010

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Überall hat sich die Welt verändert – nur nicht im Nahen Osten. Hans-Peter Bartels besuchte jetzt das palästinensische Flüchtlingslager Shatila und erlebte eine „Parallelgesellschaft der Elenden“.

Das palästinensische Flüchtlingslager Shatila, mitten in Beirut gelegen, existiert seit 61 Jahren, so lange wie es Israel und auch die Bundesrepublik Deutschland gibt; die DDR ist inzwischen längst Geschichte. Meine Mutter kam 1945 aus Pommern nach Schleswig-Holstein; die Familie lebte in einer Nissenhütte; im Winter heizte man mit einer „Hexe“. Zehn Jahre nach dem Krieg heiratete sie meinen Vater, einen Einheimischen. Später zogen wir nach Kiel. Diesen Wahlkreis vertrete ich seit elf Jahren im Deutschen Bundestag.

In Shatila leben nach Angaben der Vereinten Nationen 18.000 Menschen. Nach den Zerstörungen im ersten Libanonkrieg mit dem Massaker 1982 und den Zerstörungen des libanesischen Bürgerkrieges wurden die provisorischen Unterkünfte durch Betonbauten ersetzt, erst zweistöckig, heute oft sieben „Stockwerke“ hoch – umgekehrten Pyramiden gleich, von Etage zu Etage mehr überstehend. Die Durchgänge zwischen den Häusern sind sehr schmal, kaum dringt Licht auf den Gang, die Luft ist stickig, von oben hängen provisorische Stromkabel durch, es tropft, lärmt, stinkt. Wären da nicht die Satellitenschüsseln und die Handys, man könnte an die Gossen des Mittelalters denken. Aber statt Eseln, Ochsen und Pferden werden hier Mofas und Uraltautos durchgequält.

Früher war das Lager gewissermaßen exterritorial, von der UNO errichtet, von der PLO beherrscht. Man kontrollierte Teile der libanesischen Hauptstadt und plante die Rückeroberung Palästinas. Heute ist Shatila kein Staat im Staate mehr, sondern eine Parallelgesellschaft der Elenden. Durch Fenster, die keine Glasscheibe vom Durchgang trennt, blicken wir auf arabisches Biedermeier: Sofa, Teppich, Flachbildschirm. Aber kaum jemand hat Arbeit, es sei denn bei der UN als Lehrer oder Sanitäter im Lager. Lungenkrankheiten treten hier häufiger als normal auf. Die rudimentäre Kanalisation, obwohl mit deutscher Entwicklungshilfe etwas verbessert, scheint immer noch ein ungesundes Mikroklima zu bewahren. Die UN-Ärztin im Lager sagt, um diese Jahreszeit, im Sommer, seien Durchfallerkrankungen das größte Problem.

Ich blicke auf zu den Postern mit den Losungen und den führenden Köpfen der unterschiedlichen palästinensichen Befreiungsfraktionen. An den Wänden, aus Fenstern und zwischen den Häusern hängen auch bunte Fahnen. Die deutsche scheint im Moment am populärsten, gefolgt von der brasilianischen. Aber Brasilien war da schon ausgeschieden bei der WM in Südafrika.

Schauen Sie nach unten, sagt der palästinensische Verwaltungschef, ein Typ wie Don Camillo. Ich folge seinem Blick: drei junge Burschen an eine Hauswand gelehnt, zwei grinsen, der dritte konzentriert sich auf seine Kalaschnikow. Salem aleikum? Aleikum salam!

Im palästinensischen Ghetto gibt es Schulen, Gesundheitsversorgung, hunderte kleine Läden, etliche NGOs, es reicht gerade so zum Leben, aber da ist zu wenig Beschäftigung, zu viel Langeweile, kein Grün, nicht Schönes, keine Perspektiven. Doch es soll ja nicht für immer sein, sagen die Flüchtlinge. Sagen die Libanesen. Sagt Salvatore Lombardo, Direktor der UN-Agentur für alle Flüchtlingslager im Nahen Osten, ein sympathischer, ansteckend tatkräftiger Sizilianer.

Die Sozialisten im libanesischen Parlament haben die Aufhebung des Arbeitsverbotes für die Palästinenser auf die Tagesordnung gesetzt. Es gibt Bewegung, sagt Salvatore so verschwörerisch, als ob die UNO dahinterstecken würde. Kinder laufen neben uns her. Es hat sich herumgesprochen, dass „die Deutschen“ im Lager sind. Jugendliche wünschen uns Glück für das Halbfinale gegen Spanien, dabei erwähnen sie Müller und Podolski. Don Camillo sagt: Kommen Sie bitte wieder!

Es ist feucht-warm in Beirut, sonnig, eigentlich schön. Wir steigen in die schweren Wolf-Geländewagen der Botschaft und fahren zum Hafen, wo inzwischen Teile des deutschen „Unifil“-Kontingents eingetroffen sind. Sie sichern die libanesische Küste (womit die israelische Seeblockade abgelöst werden konnte) und bilden die winzige Marine des Landes aus. An Bord des Tenders Main aus Eckernförde gibt es ein Briefing zur Lage, Mittagessen (natürlich Schweinebraten mit Rotkohl, kleiner Scherz der Küche), Gespräch mit Vertrauensleuten.

Die Bilder aus Shatila gehen uns nach. Letzte Woche haben wir zum vierzehnten Mal seit 1949 einen Bundespräsidenten gewählt. Die Zeit rast. Es geht uns gut. Auf dem Rückweg steigen wir in Prag um. Das war früher Ostblock, vor zwanzig Jahren. Nur im Nahen Osten ist die Zeit stehengeblieben, die Welt der unmittelbaren Nachkriegszeit, 1949, ist hier gewissermaßen eingefroren.